Engel sterben
wie vor zwei Wochen. Damals hatte er doppeltes Glück im Unglück. Er hatte sich nichts gebrochen, nur ein paar Schürfwunden zugezogen, und es hatte ihn ein Tourist gefunden. Nicht auszudenken, wenn es seine Vermieterin gewesen wäre. Dann wäre Fred jetzt vermutlich obdachlos.
Als er sich anziehen will, kann er seine Jeans nicht finden. Erst nach längerem Suchen und ausgiebigem Fluchen wird ihm klar, dass er die Hose die ganze Zeit auf den Hüften getragen hat. Ist ohnehin spießig, sich zum Schlafen auszuziehen. Immerhin hat die Sucherei in der frischen Luft, die der Wind weiterhin durchs Fenster drückt, Fred etwas ausgenüchtert. Und seinen Tatendurst geweckt.
Okay, wenn er jetzt anfängt, überall rumzuschnüffeln, wird das die Polizei nicht gerade begeistern. Schließlich hat man ihn vernommen. Aber er ist unschuldig, hat ja auch ein Alibi, Hilde Brunsen sei Dank. Apropos Hilde. Fred sieht sich um, nein, da ist nichts mehr in der Flasche. Dabei könnte er gerade jetzt ein bisschen Sprit ganz gut gebrauchen. Als Zündstoff für seine Gedanken. Schließlich muss er einen Plan entwickeln.
Vielleicht sollte er die Gunst der Stunde nutzen und sich einen weiteren Tatort näher ansehen. Bis nach Hörnum ist es ohne Auto zu weit, aber wenn er das klapprige Fahrrad aus dem Schuppen hinter dem Gartenhaus nimmt, ist der Weg nach Kampen möglicherweise zu schaffen.
Während Fred sich die alte Straßenkarte in die Gesäßtasche stopft, überlegt er in einem eigenartigen Anflug von Euphorie, ob es sich bei der heutigen Nacht nicht womöglich um eine Glücksnacht handeln könnte. Vielleicht wird er tatsächlich den Schlüssel zu dem Verbrechen finden. Falsches Bild, korrigiert er sich sofort, für kein Verbrechen braucht man einen Schlüssel, den braucht man nur für Häuser, Wohnungen und Autos. Für ein Verbrechen braucht man vor allem ein Motiv – und das wird wohl kaum im nächtlichen Kampen auf dem Strönwai herumliegen. Also, was könnte er finden? Ein Versteck. Genau, das ist es doch. Er wird nach dem Versteck suchen, in dem der Entführer die Mädchen tot oder lebendig verborgen hält. Einem Versteck im Herzen der Insel.
Während Fred sich bemüht, das alte, klapprige Fahrrad im Dunkeln aus dem Schuppen zu holen, ohne ein Geräusch zu machen, beginnt er schon zu zaudern. Warum sollte ausgerechnet er etwas finden, was die Polizei nicht auch schon längst hätte entdecken können? Und wer wird schon etwas so Heikles wie entführte Mädchen mitten in Kampen verstecken?
Andererseits ist man im Auge des Orkans manchmal am besten aufgehoben. Zwar hat die Polizei sämtliche abgelegenen Inselflecken systematisch abgesucht, doch ist vielleicht gerade das Zentrum, in dem alle Welt sich aufhält, nicht genügend beachtet worden. Es muss ja nicht gerade der Strönwai sein, aber auch in Kampen gibt es genug versteckte Ecken. Außerdem wird zurzeit einiges hochgezogen, und eine brachliegende Baustelle ist vielleicht nicht der schlechteste Unterschlupf.
Als Fred das Fahrrad besteigt, wird ihm mehrmals schwindlig. Er schlingert, muss immer wieder bremsen, absteigen und tief durchatmen. Doch langsam wird es besser, und der Lichtkegel, den die Vorderlampe auf den Asphalt wirft, tanzt den Straßentango nur noch in sehr kleinen Bögen. Der Fahrtwind bläst den Alkohol aus Freds Hirn und schafft Platz für den einen oder anderen vernünftigen Gedanken. Zum Beispiel für die Frage, was eigentlich aus der Feder geworden ist, die er letztens in der Dünenkuhle gefunden hat. Und für die Frage, warum ihm diese Feder plötzlich wieder wichtig erscheint, wenn doch sein Traum nur ein Tagesrest gewesen sein soll.
Die Straße ist leer, schnurgerade und glatt asphaltiert. Es ist eine Freude, sie zu befahren. Das Rad schnurrt unter den Tritten der Pedale wie ein williges Werkzeug. Unwirklich gleitet die dunkle Landschaft vorüber. Sie ist nicht echt, denkt Fred plötzlich. Ich fahre durch ein Computerspiel, hier ist alles animiert.
Deutlich sieht er jetzt die alte Straßenkarte aus der schimmeligen Kiste vor sich. Es würde ihn nicht wundern, wenn die Kreuze von der Karte auch am Straßenrand stehen würden. Kreuze? Es waren Kringel, weist sich Fred selbst zurecht. Im Grunde genommen waren es sogar akkurate kleine Kreise. Schwarze Kreise, die sich mit zunehmender Annäherung an Kampen gehäuft haben.
Plötzlich ist hinter Fred alles hell. Wie eine Explosion erscheint das Licht, nähert sich tosend und drängt Fred mit seinem Fahrrad an
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