Engel sterben
geholfen hat, Mette zu finden, war nicht dabei?«
»Einer von denen hatte sogar ziemliche Ähnlichkeit mit ihm, aber das machte das Ganze noch gruseliger. Schließlich hat der, den ich gesehen habe, mir geholfen, meine Tochter zu finden, und sie nicht entführt.«
»Kann er es nicht trotzdem gewesen sein?«
»Das haben deine Kollegen auch überlegt, aber es lagen vielleicht fünfzehn Minuten zwischen Lises Verschwinden und meinem Zusammentreffen mit dem Mann. Und als Mette Lise gesehen hat, saß sie offenbar ganz zufrieden neben dem Entführer im Auto. Er müsste also innerhalb von einer Viertelstunde das Mädchen überwältigt und …« Anja stockt und sucht nach Worten, »… irgendwie dingfest gemacht haben. Ich meine, irgendwann wird sie gemerkt haben, dass er nicht der gute Onkel ist, und spätestens dann konnte er sie nicht mehr allein lassen. Sie durfte ihm schließlich nicht weglaufen.«
»Du hast recht. Das Ganze gäbe nur einen Sinn, wenn das Mädchen freiwillig mitgegangen wäre.«
»Und das ist sie nicht, oder?«
»Wir können uns jedenfalls kein Szenario vorstellen, in dem das möglich wäre. Nicht, nachdem dieser Zauberer entlastet worden ist. Und er war es ja definitiv nicht, den du gesehen hast?«
»Nein, nein, den haben mir deine Kollegen ja gleich gezeigt. Der sah ganz anders aus.«
»Du hast aber jetzt ein Phantombild von diesem Touristen generiert?«
»Schon, nur wissen deine Kollegen noch nicht, ob das überhaupt an die Öffentlichkeit darf. Er wird ja als Zeuge gesucht, nicht als Verdächtiger.«
»Das lässt sich klären.«
»Aber was wird es nutzen? Wenn der Typ etwas beobachtet hätte, hätte er sich längst gemeldet.«
»Vielleicht hat er etwas zu verbergen.«
»Solange es keine toten Mädchen sind, kümmert das im Moment wirklich niemanden, noch nicht einmal euch. Oder irre ich mich?«
»Ich fürchte, nein. Im Gegenteil, du triffst den Nagel auf den Kopf. Bei uns bleibt alles liegen, weil alle nur wie verrückt an diesen Entführungen arbeiten. Und was haben wir? Nichts!«
Sonntag, 26. Juli, 20.29 Uhr,
Alte Landstraße, Westerland
Im Eiltempo fegt Silja Blanck durch ihre Wohnung. Sie ist frisch geduscht und umgezogen, aber noch ungeschminkt. Hastig greift sie nach Tiegeln und Pinseln. Nur nicht nachdenken. Vor allem nicht über dieses überstürzt verabredete Rendezvous für den Abend. Bastian Kreuzer ist genau der Typ Mann, den sie nicht in ihrem Leben gebrauchen kann. Nein. Sofort verbessert sie sich selbst. Sie kann nicht nur ihn nicht, sie kann überhaupt keinen Mann in ihrem Leben gebrauchen.
Männer entführen Mädchen und zerstören deren Leben. Männer gehen zur Polizei und fühlen sich mächtig. Für Silja sind das zwei Seiten einer einzigen Medaille.
Und warum bist du dann selbst zur Kripo gegangen, fragt sie sich, während der Make-up-Pinsel leicht wie ein Seidenhauch über ihren Teint fährt. Längst weiß Silja, dass sie die Schminkrituale nicht nötig hat, dass ihre Haut auch ohne Puder ebenmäßig und leicht getönt ist. Niemand sähe einen Unterschied, würde sie auf die langwierige Prozedur verzichten. Aber es gibt ihr Halt, ihr Gesicht mit dieser dünnen Maske zu versehen. Es ist, als zöge sie eine weitere Mauer um ihre Seele, als erschwere sie mit Puder, Farben und Tusche den Zugang zu allem, was ihr wichtig ist, was sie im Innersten ausmacht.
Nach dieser Maxime hat sie ihr Leben ausgerichtet, und der Preis dafür ist hoch. Silja hat wenige Freunde, fast alle Mitschüler und Mitschülerinnen haben studiert, sie sind jetzt über die ganze Republik verteilt, einige sind ins Ausland gegangen. Auf Sylt ist fast niemand geblieben. Nur Karsten, der schon damals ein Hansdampf in allen Gassen war und jetzt sehr erfolgreich einen Nobelimbiss in Kampen führt. Bei ihm hat Silja für heute Abend einen Tisch reserviert. Auch das war eine Übersprungshandlung, und Karsten staunte nicht schlecht, als er Jahre nach dem Abitur die ehemalige Mitschülerin am Telefon hatte. Natürlich war sein Bistro ausgebucht, doch für Silja und ihren Begleiter würde er einen zusätzlichen Tisch auf der Terrasse platzieren.
»Ist er auch bei der Kripo?«, war alles, was Karsten fragte. Ihre zustimmende Antwort wunderte ihn nicht. Wie sollte er auch wissen, dass Silja sogar im Job von Anfang an alle Kontaktversuche abgeblockt und sich nur beruflich engagiert hat. Die Kollegen haben sich längst daran gewöhnt. Silja weiß genau, wie sie sie nennen, wenn sie nicht dabei ist. Die
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