Engel sterben
Unter den erstaunten Blicken Sven Winterbergs greift Bastian Kreuzer sich das erste Stück seiner Pizza und beißt herzhaft hinein.
Kauend erklärt er: »Setz dich, Sven. Setz dich einfach hin und iss deine Pizza. Und schön das Gehirn abschalten dabei. Danach reden wir weiter. Und vor allen Dingen werden wir hier im Haus jemanden finden, der gesehen hat, welches verdammte Schwein diesen Umschlag direkt neben der Pförtnerloge in den Briefkasten geworfen hat. Wir finden ihn, und wenn wir jeden Kollegen, jede Sekretärin, jede Putzfrau einzeln ausquetschen müssen. Und dann schnappen wir uns das Schwein, wer auch immer es sein sollte.«
Montag, 27. Juli, 16.00 Uhr,
Wattvilla, Kampen
Mona beißt ein letztes Mal von dem Apfel ab. Jetzt ist nur noch der Gripsch übrig. Sie öffnet die Plastiktüte und lässt ihn hineinfallen. Knisternd schieben sich die Verpackungen der Schokoladenriegel und der Würstchen zusammen, die schon in der Tüte liegen. Mit einer heftigen Bewegung knüllt Mona das Plastik zwischen den Händen, als würde sie der Tüte den Hals umdrehen. Irgendwann wird deren Inhalt anfangen zu stinken. Irgendwann wird sie selbst anfangen zu stinken, weil sie den Kotdrang nicht mehr wird zurückhalten können. Irgendwann werden die Coladosen alle und die Seltersflaschen ausgetrunken sein. Irgendwann wird es keine nächtlichen
Rewe
-Tüten-Lieferungen mehr geben. Irgendwann wird sie hier unten bei lebendigem Leib vergammeln wie ein überfälliges Stück Fleisch, das man versehentlich aus der Kühltheke genommen hat.
Irgendwann. Aber jetzt noch nicht.
Mona bemüht sich, ruhig zu bleiben. Sie sieht auf die Uhr. Vier am Nachmittag. Sie sitzt jetzt schon fast achtundvierzig Stunden hier fest. Wann werden die Kollegen im Büro zur Polizei gehen? Aber selbst wenn man sie als vermisst gemeldet hat, ist es fraglich, ob die Polizei hier nach ihr suchen wird.
Da ist sie wieder, die Panik. Ein großer dunkler Vogel mit ausladenden Schwingen, die sich zeitlupengleich über sie senken, die alles unter sich begraben, die ihr gesamtes Leben zudecken werden, es einfach vernichten. Vielleicht nicht ihr gesamtes Leben, korrigiert sie sich, aber in jedem Fall das, was noch davon übrig ist.
Sie muss sich ablenken. Aber wie? Hat sie nicht schon den ganzen Raum durchsucht? Mit Blicken immer wieder, und einige Ecken auch auf Händen und Füßen. So hat sie die Sporttasche gefunden, die Cola und die Schokolade. Und natürlich die Zeitschriften, deren Artikel sie mittlerweile fast auswendig kennt. Aber es gibt selbst in diesem übersichtlichen Raum noch Stellen, an die sich Mona nicht herangewagt hat. Warum auch?
Doch darum geht es jetzt nicht mehr. Sie braucht einen Plan, sie braucht ein Vorhaben, sie muss sich beschäftigen. Und nicht nur das. Sie will, bevor sie untergeht, alles getan haben, um ihren Untergang zu verhindern. Vielleicht steckt ja in einem der Bettgestelle ein Messer, denkt Mona höhnisch. Oder zwischen Matratze und Federung liegt ein Zweitschlüssel verborgen. Könnte ja sein. Jetzt lacht auch der schwarze Vogel der Verzweiflung, er lacht keckernd und laut, er schüttelt sich vor Vergnügen, und einzelne Federn stauben herab.
Mona, die gerade damit begonnen hat, die Bettdecken abzuziehen, um die Inletts zu untersuchen, hält inne. Nein, die Federn sind nicht schwarz, sie sind weiß, und es sind nur wenige, die da um sie herumfliegen und sanft zur Erde gleiten. Und natürlich kommen sie aus dem Federbett, das Mona gerade aus dem Bezug geholt hat. Der Vorgang wiederholt sich bei den anderen Betten. Ein leichter Flaum bedeckt jetzt den Boden. In einer Ecke des Kellerraumes liegen die Bezüge auf einem kleinen Haufen. Neben dem mickrigen Berg aus gelbgewürfelter Baumwolle erhebt sich der stattliche Hügel mit den Federbetten und den Kopfkisseninletts. Mona zieht nun auch die Laken ab und wirft sie über die Bettbezüge. Jetzt liegen die Matratzen blank vor ihr. Glänzende Matten, cremefarben mit hellblauen Linien darauf. Als Mona sie von den Bettgestellen wuchtet, bricht ihr der Schweiß aus. Sie beginnt, sich vor dem eigenen Körpergeruch zu fürchten. Und sie beginnt, an ihrem Vorhaben zu zweifeln. Der Kellerraum wirkt verwüstet und zerschlagen. Der Rest jeder Ordnung ist dahin. Vielleicht wird sie die Kraft gar nicht mehr aufbringen, die Ordnung wiederherzustellen. Und warum auch? Schließlich ist der Anblick der drei Matratzen, die jetzt übereinandergestapelt sind, gar nicht so erschreckend. Sie könnte
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