Engel sterben
auch auf diesem Stapel schlafen. Nur die vierte, die verhasste Matratze des Bettes, in dem der Besitzer des Schlafanzuges gelegen hat, muss sie jetzt noch hinzufügen. Dann ist die Verwüstung komplett.
Als Mona auch diese Matratze vom Bettgestell ziehen will, gibt es ein ungewohntes Geräusch. Ein Knacken, leise und hohl. Im ersten Augenblick denkt Mona, jemand sei an der Tür. Sie lässt die Matratze fahren und läuft hinüber. Doch da ist nichts. Kein Ton, keine Bewegung. Mona schlägt gegen die Tür, heftig und ausdauernd. Wie oft hat sie das eigentlich schon getan? Wann wird sie lernen, dass dies eine überflüssige Handlung ist? Wann wird sie aufgeben und sich in ihr Schicksal fügen?
Mona dreht der verhassten Tür den Rücken zu und lässt sich langsam zu Boden sinken. Direkt neben ihr steht das Männerbett an der Wand. Die Matratze hängt halb vom Gestell herunter und liegt mit einer Ecke schon am Boden. Die Sprungfedern des Bettgestells sind aus glänzendem Metall, sie wirken stark und unbenutzt. Sie wirken bedrohlich, denkt Mona jetzt. Sie könnten eine Waffe abgeben, falls es gelänge, eine von ihnen aus dem Bett zu lösen.
Sie zwingt sich zum Aufstehen und dazu, die Matratze von der Federung zu ziehen. Das Geräusch von vorhin wiederholt sich. Ein hohles Knacken, fast als würde eine Coladose geöffnet. Und es kommt vom Bett, nicht von der Tür.
Als es Mona gelingt, die Matratze mit einem letzten Schwung zu Boden zu reißen, offenbart sich auch der Ursprung des Geräuschs. Es kommt ein ziemlich zerrupfter weißer Flügel zum Vorschein, der in heilem Zustand vermutlich Assoziationen an Weihnachten und Christkinder geweckt hätte. In sanftem Schwung sind goldüberstäubte Federn auf einem Drahtgestell angeordnet gewesen, die sich jetzt allerdings durch die reißenden Bewegungen Monas zwischen den Sprungfedern verkeilt haben, so dass es wirkt, als sei ein Engel in den Metallspiralen stecken geblieben und als habe sich der abgebrochene Flügel in einer letzten Regung von Protest zwischen den Spiralen aufgerichtet.
Entsetzt starrt Mona auf das Menetekel. Ein toter Engel, verlorene Unschuld, Kindesmissbrauch hämmert es in ihrem Hirn. Als hätte sie diese Gedanken nicht auch schon vorher gehabt. Als wäre nicht die ganze Insel mit diesen Gedanken schwangergegangen. Mona fühlt, wie ihr Widerstand bricht, ihre Kraft schmilzt, ihre Kampfbereitschaft erlahmt. Soll der Wahnsinn doch nach ihr greifen. Was sie sieht, ist nicht real, kann es nicht sein, so viel weiß sie noch. Und doch ist es da. Zögernd macht Mona einige Schritte auf den Flügel zu, langsam streckt sie die Hand aus und streicht über die Federn. Sie kann alles fühlen, den weichen Staub ebenso wie die körnigen Goldplättchen zwischen den Härchen. Der Wahnsinn hat Kontur und Gestalt.
Und Mona ist ihm wehrlos ausgeliefert.
Montag, 27. Juli, 17.02 Uhr,
Kriminalpolizei Westerland
Bastian Kreuzer hat den Kopf in beide Hände gestützt und schimpft halblaut vor sich hin, während Sven Winterberg am Schreibtisch nervös einen dicken Stapel mit Akten durchblättert. Als er findet, wonach er gesucht hat, stellt er resigniert fest: »In dem Haus von diesem Hübner gab es tatsächlich nur dessen eigene Fingerabdrücke. Dein genialer Leo hat jede Menge Proben genommen. Und? Was findet er? Immer nur Hübner selbst.«
»Tja, Sven, das heißt wohl, dass du den falschen Vogel gefangen hast«, kommentiert Kreuzer, ohne den Kopf zu heben.
»Es heißt nur, dass Hübner nicht so blöd war, mit den Mädchen in dieses Haus zu kommen, wo seine Vermieterin ihn sofort verpfiffen hätte.«
»Steigerst du dich da nicht in etwas hinein?«
»Na hör mal, schließlich hat der Kerl nachweislich die gesamte Dünenmulde plattgetrampelt, in der wir die Kleidung von Ann-Kathrin gefunden haben.«
»Was sagt er eigentlich dazu?«
»Kannst du gleich vergessen. Der gibt den reinsten Schwachsinn von sich.«
»Geht’s etwas genauer?«
Winterberg seufzt.
»Also gut. Er behauptet, er sei aus alter Gewohnheit an einem der letzten Abende dort gewesen. Volltrunken, nehme ich mal an. Und dann hat er noch was von süffigen Erinnerungen an vergangene Liebesabenteuer gemurmelt.«
»Klingt verrückt genug, um wahr zu sein.«
»Na, ich danke. Aber da kommen wir jetzt sowieso nicht weiter. Also lass uns die Baustelle wechseln: Habt ihr inzwischen irgendeinen Zeugen für den Briefeinwurf?«
»Komplette Fehlanzeige. Der Typ, der den Engelsbrief hier deponiert hat, muss entweder
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