Engel sterben
überzeugt, dass die Mädchen nicht mehr leben. Und das Verstecken von Leichen muss nicht unbedingt aufwendig organisiert werden.«
Sven Winterberg vergräbt das Gesicht in den Händen. Seine Gestalt scheint alle Spannung zu verlieren, so schnell sackt sie in sich zusammen.
»Sorry, ich habe nicht geahnt, dass dir das so nahegehen würde.«
»Meine Tochter hat jetzt schon Albträume. Sie sieht ein Monster nachts in ihrem Zimmer. Was soll erst werden, wenn sie erfährt, dass die Mädchen umgebracht worden sind.« Winterbergs Stimme kommt gepresst zwischen den Fingern hervor. Seine Schultern zucken.
»Mensch, Sven, vielleicht spinnen wir alle. Vielleicht tauchen die Lütten doch wieder auf.«
»Lass stecken, Bastian, du hast ja recht.«
Als es plötzlich an der Bürotür klopft, sieht Kreuzer irritiert auf die Uhr.
»Scheiße. Wir hatten doch noch zehn Minuten zum Denken. Jetzt müssen wir die Pizza kalt werden lassen. Herein.«
In der Tür erscheint nicht der Pizzabote, sondern der Pförtner. Sein Gesicht ist blass, in der Hand schwenkt er ein aufgerissenes Kuvert.
»Ich glaube, das ist für Sie. Hat bestimmt was mit den Mädchen zu tun.«
»Was heißt hier, Sie glauben? Wenn der Brief für mich ist, warum haben Sie ihn dann aufgemacht?«, schnauzt Kreuzer.
»Er ist nicht mit der normalen Post gekommen. Er muss von jemandem in den Briefkasten geworfen worden sein. Und weil auf dem Umschlag keine Adresse stand …«
Kreuzer springt auf, zieht ein Papiertaschentuch aus der Schreibtischschublade und ergreift mit dem Taschentuch über den Fingern vorsichtig das Kuvert.
»Hat das außer Ihnen noch jemand angefasst?«
»Nö.«
»Und wann haben Sie den Brief gefunden?«
»Na, so vor ein oder zwei Stunden.«
Kreuzer stöhnt leise und zieht mit Hilfe eines zweiten Taschentuchs einen DIN - A 4-Bogen aus dem Umschlag. Sven Winterberg schiebt den Pförtner beiseite, um seinem Kollegen besser über die Schulter schauen zu können. Was beide sehen, lässt sie erbleichen.
Mit ausgeschnittenen Zeitungsbuchstaben sind zwei kurze Sätze auf den Bogen geklebt. Einige Buchstaben scheinen sich gelöst zu haben, so dass die Sätze unvollständig sind.
S geHt unS U
wir SinD jeT T eng L
Unter den beiden aufgeklebten Zeilen gibt es noch drei weitere Worte. In ungelenker Kinderschrift befinden sich dort mit Filzstiften in Rot, Grün und Blau mehr gemalt als geschrieben die drei Namen der entführten Mädchen.
Ann-Kathrin
Paula
Lise
Hektisch greift Sven Winterberg nach dem Briefumschlag und schüttelt ihn über der Schreibtischplatte. Es gleiten fünf weitere Buchstaben heraus:
Z, E, t, G, e.
Kreuzer legt den Briefbogen auf den Tisch, und Winterberg schiebt mit dem Griff eines Kugelschreibers die losen Buchstaben an ihren Platz. Dann starren beide auf den Bogen, bis Winterberg mit heiserer Stimme das Schweigen unterbricht.
»Es geht uns gut, wir sind jetzt Engel.«
»Engel«, brüllt Sekunden später Bastian Kreuzer und schlägt mit der flachen Hand auf den Schreibtisch, dass die Buchstaben fliegen. »Engel, verdammt nochmal, die sind tatsächlich tot. Das Schwein hat sie umgebracht, und jetzt macht es sich über uns lustig.«
»Verzeihung?«
Ein ratloses und zwei wütende Augenpaare fixieren den Pizzaboten, der plötzlich in der Tür steht.
»Eine Capricciosa und einmal extra mit Sardellen.«
»Hinstellen und verschwinden«, faucht Kreuzer.
»Macht dreizehn achtzig.« Der Bote rührt sich nicht vom Fleck.
Mit fliegenden Fingern fummelt Winterberg einen Zwanziger aus der Hosentasche und stopft dem Boten den Geldschein in die Hand.
»Ist schon okay, Knut. Geht nicht gegen dich persönlich.«
»Oh, danke. Immer wieder gern.«
Während der Pizzabote pfeifend den Raum verlässt, wechseln Kreuzer und Winterberg einen Blick, um dann gemeinsam den Pförtner anzusehen. Er versteht die Frage, bevor sie gestellt wird.
»Ich weiß es nicht. Keine Ahnung.«
»Das ist nicht Ihr Ernst«, schnaubt Kreuzer.
»Doch. Leider. Ich habe wirklich nicht gesehen, wer den Brief in den Kasten geworfen hat. Ich weiß nur, dass es nach zehn Uhr gewesen sein muss, denn da habe ich zum letzten Mal nach der Post geschaut.«
»Scheiße, verdammte!« Wütend reißt Kreuzer den Pizzakarton direkt neben dem Briefbogen auf. »Ich denke, wir brauchen Sie erst mal nicht mehr. Aber sagen Sie sicherheitshalber Bescheid, bevor sie am Nachmittag nach Hause gehen, okay?«
»Mach ich.«
So schnell wie möglich verlässt der Pförtner den Raum.
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