Engel sterben
Kommissar wirft sie wie achtlos in die Schublade, aber seine Worte zeigen, dass er das Geschehen aufmerksam verfolgt hat.
»Drei sind eine ordentliche Dosis. Scheint ein beachtlicher Kater zu sein, den Sie da mit sich rumschleppen.«
»Sie haben nicht zufällig …« Fred macht eine kippende Handbewegung.
»Nein. Bedaure.«
»Vergessen Sie’s. War auch nicht ernst gemeint.«
»Umso besser. Herr Hübner, erinnern Sie sich komplett an die letzte Nacht?«
»Leider nein.«
»Da bin ich aber froh, dass wir Ihr Vernehmungsprotokoll vom Vormittag haben.«
»Wieso? Was steht da drin?«
»Müssen wir jetzt nicht wiederkäuen. Ich wollte Sie etwas anderes fragen.«
Fred rutscht unruhig auf seinem Ledersitz herum. Der Kopf dröhnt, der Magen rebelliert, und sein Kreislauf beginnt auch zu spinnen.
»Was haben Sie gesagt?«
»Ich wollte Sie etwas fragen.«
Kreuzers Stimme ist ruhig, bedächtig und eindringlich. Er sieht Fred konstant in die Augen, als sei er ein begriffsstutziges Kind.
»Schießen Sie los.«
Kreuzer verzieht den Mund zu einem knappen Lächeln.
»Bei der Polizei sollten Sie mit solchen Wortspielen vielleicht vorsichtiger sein.«
»Hören Sie mal, wenn Sie hier mit mir Smalltalk machen wollen, dann suchen Sie sich gefälligst jemand anderen. Mir geht es echt schlecht. Also, was wollen Sie?«
Freds Magen stülpt sich in einem plötzlichen Reflex um. Vielleicht hätte er das Wasser nicht trinken dürfen. Aber noch verbietet es sein Stolz, sich für einen Gang zur Toilette zu verabschieden.
»… wir sind jetzt Engel.«
»Wie: Engel? Was haben Sie gesagt? ’tschuldigung, aber ich habe wohl gerade nicht so ganz zugehört.«
»Kein Problem. Ich wiederhole mich gern. Hab ja auch sonst nichts zu tun.«
»Pardon. Soll nicht wieder vorkommen.«
Freds Stimme klingt devot. Er wäre auch vor dem Kommissar auf die Knie gefallen. Nichts ist ihm plötzlich wichtiger, als zu erfahren, was das Walross gerade gesagt hat.
»Sie wollten doch vorhin diesen Zettel hier sehen. Es ist ein Brief, der heute Mittag in unseren Briefkasten geworfen worden ist. Wir haben gute Gründe zu der Annahme, dass der Urheber des Briefes auch der Entführer der drei Mädchen ist.«
»Warum?«
»Ihre Fingerabdrücke sind drauf.«
»Meine?«
»Nein, Ihre nicht. Überrascht Sie das? Es sind die Fingerabdrücke der drei Mädchen.«
»Und in dem Brief steht etwas über Engel?«
»Ganz recht. Der Brief besteht nur aus zwei Sätzen. Und die sind ebenso knapp wie rätselhaft. Da steht: Es geht uns gut. Wir sind jetzt Engel.«
Fred spürt förmlich die saugenden Blicke Bastian Kreuzers auf seiner Haut. Keine Regung, keine winzige Veränderung seiner Mimik wird dem Kommissar entgehen. Trotz seines Magenflatterns und der zunehmenden Übelkeit gelingt es Fred, wenigstens für die ersten Sekunden der größten Aufmerksamkeit sein altes Pokerface aus der Schublade zu ziehen. Denn die sehr speziellen Bilder, die ihm gerade zum Thema »Engel« durch den Kopf schießen, wird er ganz bestimmt nicht vor dem Walross ausbreiten.
»Fällt Ihnen dazu nichts ein?«
Der Kommissar bemüht sich sichtbar, seine Enttäuschung zu verbergen.
»Was soll mir dazu einfallen? Ich habe den Brief doch nicht geschrieben. Und mit den Mädels habe ich schon gar nichts zu tun. Aber das habe ich vermutlich gelegentlich erwähnt.«
»Ja, das sagten Sie bereits.«
Ein ratloses Schweigen breitet sich im Raum aus. Kreuzer wirkt, als habe er sein letztes Pulver verschossen und nicht getroffen. Jetzt klopft er seine Hosentaschen ab, als suche er dort nach Reservemunition. Aber die Taschen sind leer.
»Es geht uns gut. Wir sind jetzt Engel«, wiederholt der Kommissar mit eindringlicher Stimme, schweigt einige Sekunden und redet dann sehr leise weiter. »Sind die Mädchen jetzt tot, oder leben sie noch? Was meinen Sie?«
»Fragen sie mich was Leichteres. Oder besser noch, beantworten Sie mir zur Abwechslung mal eine Frage. Und glauben Sie mir, es ist ziemlich dringend. Wo waren noch mal Ihre Klos? Ich müsste nämlich mal kotzen.«
Montag, 27. Juli, 19.09 Uhr,
Braderuper Weg, Kampen
Anja stellt Wurst, Schinken und Käse auf den Tisch. Zum Glück hat sie am Nachmittag ein frisches Brot besorgt. Und eine Reserveportion Geflügelsalat steht auch im Kühlschrank. Ihre Begeisterung darüber, dass Sven zu dem ersten Abendessen, das sie seit vier Tagen gemeinsam mit Mette einnehmen können, gleich noch seinen Kollegen vom Festland eingeladen hat, hält sich wahrlich
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