Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
Glück gibt es in Wien keine Malaria, noch nicht, aber wenn das mit dem Klimawandel so weitergeht, sitzen wir bald in weißen Leinenanzügen draußen und trinken den ganzen Tag über Gin Tonic wie die englischen Kolonialherren, die diesen Cocktail für die beste Malariaprophylaxe und -therapie gehalten hatten; hat zumindest Schäfer einmal behauptet, als sie eine Dezernatsparty an der Alten Donau gefeiert hatten und der angeregte Major den weiblichen Neuzugang vom kriminaltechnischen Labor in willfährige Stimmung bringen wollte.
Bergmann zog das nasse T-Shirt aus, setzte sich ins Wohnzimmer und starrte apathisch an die Wand. Bruchstückhaft und komprimiert, wie eine ungeordnete Diashow, zog dort der Wahnsinn der letzten Wochen vorüber.
Ein kroatischer Möbelpacker, dem von einem Kampfhahn die Hauptschlagader mit einer Rasierklinge durchtrennt wird. Ein Prostituiertenmörder, dem von einem Unbekannten der Kehlkopf eingeschlagen wird. Ein Schüler, der im Park eine Waffe findet, mit der sich ein altes krankes Ehepaar aus dem Leben verabschiedet hat, und damit einen Mord verübt und einen zweiten plant. Eine junge Frau, die während eines Beziehungsstreits aus dem dritten Stock fällt; fast nackt auf eine Mülltonne, wo sie von einem Jugendlichen fotografiert wird, der die Bilder ihrer Leiche gleich darauf ins Internet stellen will. Ein verrückter Computertechniker, dem die eigene Lampe auf den Tisch fällt und eine Sprengladung zündet, die ihm die Halsschlagader zerfetzt. Eine Frau, die ihren Mann im Schlaf ersticht … Bergmann legte die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. Das waren wohl die Dämonen, von denen Goldmann gesprochen hatte. Schäfers Dämonen? Die er, Bergmann, nicht töten sollte, um den Major bei seiner allfälligen Rückkehr nicht arbeitslos zu machen? Ha, schön wär’s! Das Böse war nicht zu vernichten. Doch. Aber nur durch das Böse. Kill all my demons, and my angels might die too, sprach sich Bergmann laut vor. Dann setzte sich sein Gehirn in Gang, wie die schwerfälligen Zahnräder einer alten Standuhr, die zur vollen Stunde zum Schlag ansetzt. Tong! Artillon. Wallis. Wald. Pilze. Schäfer. Ein Ehepaar, das im Wallis auf Wanderurlaub gewesen war. Sie hatten sich auf den Fahndungsaufruf hin gemeldet. Behauptet, dass sie Schäfer gesehen hatten, wie er über den Waldboden kriechend Pilze in den Mund gestopft hatte. Bergmann fuhr seinen Laptop hoch, rief den Ermittlungsbericht der Fahndung ab, las ihn durch und suchte dann im Internet eine Übersichtskarte der Schweiz. Er ließ die Route berechnen, druckte den Plan aus und ging ins Schlafzimmer, um sich anzuziehen.
Die Telefonistin des ÖAMTC meinte, dass ein Techniker frühestens in vier Stunden verfügbar wäre; die vielen Tiefgaragen, in die das Hochwasser eingedrungen war … ja, schon klar, erwiderte Bergmann und legte auf. Ein paar Mal drehte er den Zündschlüssel noch, doch der Motor wimmerte nicht einmal, der Wagen war im Koma. Scheiß moderne Elektronik, fluchte Bergmann und schlug die Wagentür zu, da spuckt man auf irgendeine Diode und schon ist der ganze Schrott zum Vergessen. Er nahm seine Reisetasche aus dem Kofferraum und machte sich auf den Weg zur nächsten Bushaltestelle. Irgendwie würde er schon zum Westbahnhof kommen. Mit dem Zug nach Zürich … offenbar die schnellste Variante, zumal auch der Flugverkehr aufgrund der Hochwassersituation aus dem Rhythmus gekommen war. Einen Flug um 14:30 Uhr hätte er bekommen; der sich aufgrund der zahlreichen Verspätungen höchstwahrscheinlich ein, zwei Stunden nach hinten verschieben würde, wie man ihm mitgeteilt hatte. Höhere Gewalt, wozu sich aufregen, murmelte er und bekam ein paar Liter Spritzwasser des in die Haltestelle einfahrenden Busses ab.
Mit der Zahl der Kilometer, die Bergmann sich von Wien entfernte, nahmen auch seine Zweifel zu. Seine Entscheidung, nach Artillon zu reisen: völlig irrational. Ohne Suchmannschaft, ohne Spürhunde, ohne Ortskenntnis – außerdem waren seit der Meldung der Wanderer fast zwei Wochen vergangen. Dass sich Schäfer auf einem kleinen Waldstück im Kreis drehte und auf seinen Retter Bergmann wartete: Nonsens. Was machte er also hier in diesem Zug, der aus ihm unbekanntem Grund höchstens 50 km/h fuhr? Ungläubig auf überschwemmte Felder starren, auf Soldaten des Bundesheers, die Schlamm schaufelten und Sandsäcke schleppten, auf Feuerwehrleute, die erschöpft an den Einsatzwagen lehnten, auf entwurzelte Bäume, fortgeschwemmte
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