Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
auch nur neunzig Kilometer entfernt. Er sah aus dem Fenster, der Wallersee, er packte den Laptop ein und nahm seinen Mantel vom Haken. So eine sinnlose Aktion, diese ganze Reise. Oder auch: Herr, deine Wege sind unergründlich.
46.
Hab ich irgendetwas verpasst? Ja, kann man so sagen, beantwortete er die eigene Frage und lachte in sich hinein. Aber das da? Er stieg aus der S-Bahn und beobachtete aus einigem Abstand das merkwürdige Treiben, das ihn schon auf der Fahrt hierher, beim Blick aus dem Zugfenster, verstört hatte. Militär, Feuerwehr, ein Großaufgebot an Einsatzkräften, wie man es bei Truppenübungen oder Vorbereitungen zu Paraden kennt. Doch dafür wirkte diese Situation viel zu ernst: Die höheren Dienstgrade überbrüllten das Lärmen der Dieselmotoren, trieben die Männer zur Eile an, eher aus Gewohnheit denn aus Notwendigkeit, wie es Schäfer erschien, denn bei diesem Regen musste ohnehin niemand überredet werden, die Sandsäcke, Pumpen, Schaufeln, Spitzhacken und anderes schweres Werkzeug so schnell wie möglich auf die Ladeflächen zu hieven, um sich dann unter den dunkelgrünen Planen der Armee-Lkw eine wohlverdiente Zigarette anzuzünden und die folgende Fahrt für ein Nickerchen zu nützen.
Allein: die Mehrzahl der Männer, die da der Abwehr irgendeiner Katastrophe dienten, waren weder Soldaten noch Schweizer. So gut wie alles, was der Herr, der Schöpfer, an Gesichtszügen, Hautfarben und sonstigen ethnisch bestimmten Eigenschaften geschaffen hatte, tummelte sich hier auf diesem Parkplatz in St. Margrethen. Hünenhafte Afrikaner, gestauchte Mongolen, schnauzbärtige Armenier, Araber, Latinos, Inder … war das hier die Reservebank einer UNO-Truppe, die sich nicht einmal Uniformen leisten konnte, sondern in Trainingsanzügen, schäbigen Lederjacken und Caritas-Couture zum Einsatz kam?
Er umging den Parkplatz und trat auf einen Afrikaner zu, der von einem privaten Pick-up Sandsäcke hob.
„What are you doing here?“
„Help for Austria“, der Mann hielt in seinem Tun inne und grinste ihn an, „big water!“
„Are you from UNO ?“
„What?“
„Are you from the United Nations? Military …“
„No … asyl … here volunteer, only for help, go to Austria now!“
Die Schweiz lieh Österreich Asylanten, die sich freiwillig zum Katastropheneinsatz gemeldet hatten?
„Can I help?“
„Yes, of course … carry sand, over there!“, der Afrikaner deutete auf einen Lkw der Armee am gegenüberliegenden Ende des Parkplatzes.
„Okay“, er nahm einen der Säcke, stemmte ihn auf die Schulter und marschierte los – warum der Pick-up nicht einfach näher an den Lkw heranfuhr, wollte er nicht zu diskutieren beginnen.
Krumm wie Quasimodo kletterte er ein paar Stunden später in einen der Militärtransporter, zwängte sich auf die Holzpritsche, auf der an jeder Seite bereits zehn Menschen saßen und hielt die Zigarettenschachtel in die Runde, die er während einer kurzen Pause gekauft hatte. An der Front gibt’s keine Nichtraucher, dachte er beim Blick in die leere Schachtel und streckte sein Kinn dem Armenier entgegen, der für die Feuervergabe zuständig war.
„Where you from?“, fragte ihn ein junger Asiate, als sie losfuhren.
„Austria …“, aus dem Augenwinkel sah er den Geländewagen der Armee, der ihnen folgte. Logisch: arbeiten erlaubt, abhauen nicht.
„No … not go … where from?“
„Ah …“, er schaute ihn die Runde, um abzuwägen, welche Sprache hier nicht gesprochen wurde, „Tschetschenia.“
„Uh … war“, sagte der Asiate.
„Yes, war everywhere …“
„My country too … war not good …“
„No … war very bad …“, bestätigte Schäfer und schnippte den Zigarettenstummel nach draußen, wo er noch vor dem Auftreffen auf die Straße vom Regen gelöscht wurde.
47.
Bei Schäfers Bruder Jakob kam er nur auf die Mailbox, Sigrists Telefon schien überhaupt außer Betrieb zu sein. Vielleicht war das Netz überlastet wegen der permanenten Notrufe, mit denen die Bevölkerung die Feuerwehr bedachte; oder ein paar Sendemasten vom Hochwasser unterspült und zu Fall gebracht worden. Die Rache der Natur an der Verstrahlung durch die Menschheit! Ja, genau, und in zwanzig Jahren sitze ich im Waldviertel wie mein Stiefvater und mache die Hochspannungsleitungen für den Amoklauf eines Landwirts verantwortlich. Bergmann steckte sein Handy ein und floh vor den Menschenmassen am Bahnhof; vor der in Richtung Panik steuernden Hektik, mit der die ÖBB
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