Engel und Dämonen: Kriminalroman (German Edition)
seiner Aktentasche, las zuerst Kovacs’ Zusammenfassung, dann das Unfallprotokoll der örtlichen Polizei. Auf den ersten Blick war nichts daran unschlüssig: Der Fahrer war mit gut 120 km/h in einen Kreisverkehr gerast, das linke Vorderrad geriet auf die Betonbegrenzung, was den Wagen anhob und einen mehrfachen Überschlag verursachte, der in besagtem Möbelhaus endete. Ironie des Schicksals: Den Bürgermeister hatte nicht die Saltoparade umgebracht, die sein Auto fast hundert Meter durch eine Hecke, über eine Böschung und schließlich in die Schaufensterfront schoss, sondern ein Ungetüm von Couchtisch mit drei Zentimeter starker Glasplatte, die durch die Windschutzscheibe krachte und ihm die Schädeldecke kappte. Da hatten die Ingenieure aus Stuttgart noch so solide deutsche Wertarbeit liefern können – der Teufel ließ sich auch in einem österreichischen Möbelhaus nicht zum Schlafen verführen.
Warum der fünfundsechzig Jahre alte Mann derart flott unterwegs gewesen war, konnte sein Nachmittags- und Abendprogramm erklären: zuerst Eröffnung einer Ortsumfahrung, dann zwei Ehrungen hochbetagter Jubilare, anschließend Startschuss für das dreitägige Feuerwehrfest in der Heimatgemeinde. Hier ein Schnäpschen, dort ein Sektchen – dass man sich betrinkt, um so ein Programm zu überstehen, wunderte Bergmann nicht im Geringsten. Dass sich der Politiker mit einem Vollrausch – 1,8 Promille waren gemessen worden – in den Wagen setzte, schon eher. Aber diesen Umstand als Indiz für ein Verbrechen heranzuziehen, wie es der pensionierte Richter in seinen Recherchen anführte, war schon etwas gewagt. Als ob Menschen wie Maschinen einer zwingenden Logik zu gehorchen hätten. Die hätte laut dem Verschwörungsanhänger nie zugelassen, dass der Wagen derart die Kontrolle verloren hätte. Mercedes S-Klasse, neuestes Modell, ESP , BAS , Spurhaltesicherung, automatische Distanzregelung … ein komplexes Sicherheitssystem, das den Überschlag des Wagens verhindern oder ihn zumindest zuvor hätte abbremsen müssen, als dieser der Verkehrsinsel zu nahe kam. Also wie dann, dachte Bergmann und überblätterte schon leicht genervt die Expertisen selbsterklärter Terrorexperten, Geheimdienst-Insider und Investigativ-Journalisten, die mit zahlreichen Fotos von berühmten Schrottautos (Lady Di, James Dean, Albert Camus, Grace Kelly et cetera) angereichert waren, die allesamt von einer bösen unbekannten Macht auf die allerletzte Ausfahrt geschickt worden waren. Zum Unfall beziehungsweise Attentat, dem der Bürgermeister zum Opfer gefallen war, hatte der Richter verschiedene Theorien:
Am einfachsten wäre es gewesen, die Baustelle knapp vor der Verkehrsinsel mit einer simplen Blendanlage aus zwei Scheinwerfern und einer Batterie zu versehen, die dem Fahrer plötzlich ein frontal entgegenkommendes Fahrzeug vortäuscht. Dieser verreißt das Lenkrad, was in den meisten Fällen zu einem mehrfachen Überschlag führt. Um zusätzlich das computergesteuerte Sicherheitssystem des Wagens zu manipulieren, hätte ein Breitbandsender von fünfhundert Megahertz und dreihundert Watt Leistung gereicht, der in der Nähe aktiviert wurde und – Zitat eines Profis – die Elektronik voll gebraten hätte. War ein ausländischer Geheimdienst im Spiel gewesen, lag auch der Austausch des Steuerchips im Bereich des Möglichen, der alle relevanten Sensordaten so umgeleitet hätte, dass etwa der Befehl zum Bremsen eine Beschleunigung verursacht hätte.
Am wenigsten Glauben, dafür umso mehr Gefallen schenkte Bergmann der vierten These. Der zufolge hatte man – konkrete Namen fanden sich nirgendwo – dem Bürgermeister beim Feuerwehrfest Gamma-Butyrolacton, sogenannte K.-o.-Tropfen, ins Glas gegeben, ihn entführt, auf den Parkplatz vor dem Möbelhaus gebracht und anschließend getötet. Zeitgleich hatte ein professioneller Stuntfahrer mit dem eigens adaptierten Mercedes SLK den Unfall inszeniert. Dann war das Mordopfer in den Ausstellungsraum gebracht worden und mit der Glasplatte so zugerichtet, dass jede weitere Untersuchung überflüssig erschienen war.
Bergmann legte die Akte weg und seufzte. Dieser Richter – um die Worte ihres Forensikers Berliner Abstammung zu verwenden, der sich damit allerdings auf Schäfer bezogen hatte: der hatte doch einen an der Klatsche. Die Frage, die sich hier stellte, war nicht, wie er mit dem Fall, der höchstwahrscheinlich keiner war, umgehen sollte, sondern wie er diesen alten Paranoiker und seine
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