Engelsberg
seinen Sohn und dessen Abenteuer mit der eigenen Schwester.
Kapitel 18 Dolores Santa Cruz
Dolores. Schmerzen. Warum heißen so viele Schwarze, Männer wie Frauen, Dolores? Vielleicht, bestimmt, weil sie als Sklaven ihren Schmerz anders nicht öffentlich machen konnten, einen Schmerz ohne Geschlecht und so lang wie ihr eigenes Leben, ein Schmerz, der so lange währen würde wie ihr eigener Name. Dolores, Dolores, indem sie ihren Kindern diesen Namen gaben, nahmen die Eltern darin mit unheilvoller, sicherer Vorahnung schon das ganze Leben vorweg, Schmerzen, Schmerzen … Und Dolores hieß auch sie, ein zweifellos gut gewählter Name, denn Schmerzen waren ihre Geschichte.
Wie ein Tier war sie in Afrika gefangen und als Tier hierher verkauft worden. Sie lernte den Halsstock und die Peitsche, den Hunger und den Zwanzigstundentag kennen. Sie erfuhr, dass es in einer Welt von Sklaven und Herren sehr schwer war, die Freiheit zu erlangen. Und sie rackerte sich ab, nicht wie ein Sklave, sondern wie hundert von ihnen, Tag und Nacht und an mehreren Orten zugleich. Sie sparte sich noch den letzten Céntimo vom Munde ab, verkaufte ihre Kraft und ihren Körper an den Meistbietenden.
Nachts, wenn sich die Sklaven um das Herdfeuer drängten, sah sie diese jungen und alt gewordenen Gestalten wie Traubenbeeren dicht beieinanderliegen, beobachtete, wie sich die Leiber, im instinktiven Streben, sich zu schützen, sich zu verbergen, blindlings suchten, sie sah, wie sie dabei den Kopf immer ins Dunkle steckten, um nicht all den Schrecken sehen zu müssen. Zwischen Gewimmer und Fußtritten zog sich so der Schlaf hin, der ein Albtraum war.
Dank ihrer nie nachlassenden Schufterei und ihrem Geschick konnte sie sich ihre Freiheit erkaufen. Doch frei sein und arm sein ist wie weiter Sklave sein. Sie arbeitete noch mehr und brachte es zu mehreren Spielhäusern, einer Konditorei und einem Schuhgeschäft.
Dann passierte es, dass die Advokaten kamen, mit Tausenden von Papieren und Fragen: Wo sind deine Eigentumstitel? Wer hat sie dir überschrieben? Wo sind die Stempel und die Unterschriften des Finanzdirektors und des Steuereinziehers? … Und da viele der Advokaten für dieselben Herren arbeiteten, die ihr das Eigentum verkauft hatten und es ihr jetzt wegnehmen wollten, tauchten die Papiere nie auf. Außerdem musste sie, um sich gegen diese Advokaten zur Wehr zu setzen, andere Advokaten bezahlen, die zugleich deren Gehilfen oder Vertreter waren. So wurde ihr eines Tages nicht nur offiziell mitgeteilt, dass ihr ihr Eigentum nicht mehr gehörte, sondern obendrein schuldete sie den Advokaten, die sie verteidigt hatten, noch ein Vermögen. Wenn sie es nicht in klingender Münze zahlte, würde sie es mit ihrer Arbeit bezahlen müssen, das hieß, sie würde von Rechts wegen den Rest ihrer Tage als Sklavin verbringen.
Nur zwei Umstände würden sie von dieser Strafe befreien können: der Wahnsinn oder der Tod. Optimistin, die sie war, entschied sie sich für den Wahnsinn.
Ja, sie tat nur so, als wäre sie verrückt. Denn gewiss war sie vernünftiger als je zuvor. Sie verstand es, die Richter zum Narren zu halten, lief fort, durch die Straßen Havannas, stellte Unfug an und sang seltsame afrikanisch-spanische Lieder. Ihr »Po, poó, pooó, hier is Dolores Santa Cruz, die Advokate ham mir alles weggenomm!« wurde so populär, dass schon keiner mehr auf sie achtete. So gelang es ihr, nicht aufzufallen, frei zu sein und – zu konspirieren.
Denn gewiss war auch, dass sie sich Tag und Nacht, während ihr scheinbar toller oder naiver Singsang erscholl, mit entflohenen und aufrührerischen Schwarzen traf, Pferdeställe und Wohnsitze anzündete, Festbankette mit todbringenden Zutaten würzte, Seuchen aussäte, Flüsse und Meeresbuchten vergiftete und Nachrichten zwischen den Siedlungen übermittelte, in denen sich die Cimarrones zusammentaten, um ihre Freiheit zu verteidigen. Ihr »po, poó, pooó« war manchmal ein Losungswort, das je nachdem, wie es betont wurde, einen Befehl oder eine Warnung weitergab.
Man hatte sie nicht kleingekriegt, und man würde sie niemals kleinkriegen.
Doch ihre ganze Kaltblütigkeit verflog an dem Nachmittag, als sie, während sie auf dem Prado um Almosen bettelte und unter den aufrührerischen Kutschern Sevillamesser verteilte, die Comtesse Merlin erblickte, wie sie nicht nur über die Gesellschaft von Havanna, sondern über die ganze Welt lachte – und das mit einer Geste von Wohlwollen und Adel gar. Eine so
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