Engelsblut
anzurufen? Wir müssen dringend mit ihr sprechen.«
Irina sah Margot schweigend an. Und in diesem Moment begriff Margot, dass sie belogen worden war. Irina hatte ihre Schwester sehr wohl gesehen, als diese in Deutschland gewesen war.
»Sie ist noch in Deutschland«, stellt Margot fest.
»Nein. Sie ist zurückgeflogen. Sie würde weder ihre Kinder noch ihren Mann verlassen.«
»Wann haben Sie sie gesehen?«
»Ich habe sie nicht gesehen. Sie rief mich nur an. Da war sie oben in Leer, wo sie auch damals das Konzert hatte. Gesehen haben wir uns das letzte Mal, als sie diese kleine Konzertreise gemacht hat. Damals war sie auch in Heidelberg. Da hat sie bei mir gewohnt.«
»Was hat sie Ihnen gesagt, als Sie mit ihr telefoniert haben?«
»Nicht viel. Ich habe nichts aus ihr herausbekommen.«
»Sie rief Sie an, um dann nichts zu sagen? Das macht keinen Sinn.«
Irina Gölzenlamper zögerte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie sagte, dass sie umziehen würde. Und dass wir uns wahrscheinlich für lange, lange Zeit nicht mehr sehen könnten. Ich habe sie gefragt, was los ist, aber sie hat mir nichts gesagt. Es war kein langes Gespräch. Aber ein sehr trauriges.«
»Wenn sie sich meldet, sagen Sie ihr bitte, dass ich sie sprechen muss. Es ist wichtig.«
Irina nickte. Stand auf. Margot ebenfalls. Irina Gölzenlamper brachte Margot zur Tür.
»Danke für das Gespräch.«
»Gern geschehen. Auf Wiedersehen, Frau Kommissarin.«
Als Margot bereits die erste Stiege zur Hälfte hinabgestiegen war, war die Wohnungstür hinter ihr noch nicht ins Schloss gefallen.
»Frau Kommissarin?«
Margot drehte sich um.
Irina Gölzenlamper stand immer noch im Türrahmen. Margot sah, dass sich einige Tränen ihren Weg gesucht hatten. »Nadja – sie ist kein schlechter Mensch.«
Margot nickte. Drehte sich um. Und stieg die Stufen hinab.
Natürlich war Nadja Pirownika wieder zurück in die Ukraine gereist. Horndeich hatte ihr gesagt, dass das Visum am 15. Oktober bereits abgelaufen war. Und wenn sie drei kleine Kinder hatte, dann würde sie sicher nicht versuchen, allein hier in Deutschland illegal zu leben. Noch dazu, wenn sie hier einen Mord verübt hatte.
Margot war sicher, dass Irina Gölzenlamper mehr wusste, als sie gesagt hatte. Aber ihr war auch klar, dass die Frau im Moment nicht mehr gesagt hätte.
Zeit, nach Hause zu fahren.
Zu ihren eigenen Katastrophen.
Horndeich war von Margot aus direkt zum Präsidium gefahren. Dort hatte er nochmals Schallers Patientenakte von Susanne Warka zur Hand genommen. Er hatte immer nur den Inhalt der Mappe durchgesehen und dabei das Schriftbild kaum wahrgenommen. Nur seinem Unterbewusstsein war das winzige Detail aufgefallen. Die Mappe hatte Gummizüge, die den Inhalt an den Enden sicherten, sodass er nicht aus der Mappe rutschen konnte.
Die Blätter in der Akte waren alle mit einem Laserdrucker ausgedruckt worden. Auf der linken Innenseite der Mappe war unten rechts ein Etikett aufgeklebt, auf dem in fetter Schrift Susanne Warka stand. Darunter, in normaler Schriftstärke: Techniker Krankenkasse . Darunter: Versicherungsnummer, gefolgt von der Ziffernfolge. Darunter stand schließlich: geb., gefolgt vom Geburtsdatum der Patientin.
Das wirklich Interessante an diesem Etikett war das kleine unscheinbare »g«. Denn diesem »g« fehlte etwas: die Verbindung zwischen dem oberen Kringel und dem unteren Haken. Ganz offensichtlich hatte hier die Nadel eines Nadeldruckers gestreikt. Und Horndeich erinnerte sich, wo sein Unterbewusstsein den gleichen Fehler noch wahrgenommen hatte.
Er wühlte sich durch die abgelegten Unterlagen auf seinem und Margots Schreibtisch. Dann fand er, was er suchte. Die Schwangerschaftsbescheinigung von Regine Aaner, ausgestellt vom nicht existierenden Dr. med. Benedikt Kostner. Horndeich schaute auf die Zeile: »… bescheinigen wir Frau Regine Aaner …« Mehr musste er nicht sehen. Es war eindeutig der gleiche Druckerfehler, der auch auf dem Etikett zu sehen war, das aus Schallers Praxis stammte.
Horndeich fuhr zu Schaller. Er sah auf die Uhr. Vielleicht war Schaller nicht da. Aber vielleicht hatte Horndeich auch einfach mal Glück.
Er stellte seinen Crossfire neben der Einfahrt zur Garage ab. Drückte sowohl den Klingelknopf zur Praxis als auch den zur Wohnung.
Sekunden später tönte es aus der Gegensprechanlage: »Sie nerven. Ich war nun wirklich kooperativ genug. Schicken Sie mir eine Vorladung, wenn Sie das glücklich macht.«
»Kann ich machen.
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