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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Kibler
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bedurft, um die Bitterkeit zu kaschieren. »Einmal im Jahr besuche ich meine Eltern. Sie wohnen in einem kleinen Dorf nördlich von Odessa. Und unter ›Dorf‹ dürfen Sie sich kein deutsches Dorf mit asphaltierten Straßen vorstellen. Drehen Sie die Zeit zurück, so um hundertfünfzig Jahre. Aber meine Eltern kennen es nicht anders. Sie sind zufrieden. Na, nicht ganz, weil sie ihre Kinder und Enkel nicht so oft sehen. Wir sind – wie sagen Sie so schön: in alle Winde verstreut. Nadja lebt mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Odessa, Viktor in Kiew, Oleg in Donezk und Vika in Uschgorod. Nur Katja lebt noch zu Hause. Meine Eltern haben ein paar Kühe, eine kleine Landwirtschaft. Und wenn ich hinfahre, dann stocke ich ihre Rente ein bisschen auf und lasse den Notgroschen da, damit sie auch den Tierarzt bezahlen können.«
    Margot lenkte das Gespräch wieder auf die Schwester Nadeschda. »Geht es Ihrer Schwester gut in Odessa?«
    »Ich höre immer über Katja, wie es der Familie geht. Wie gesagt, vor vier Jahren haben wir uns das letzte Mal alle zusammen gesehen, bei meinen Eltern. Nadja – sie hat auch einen guten Mann. Vitali. Ich habe ihn gern gehabt. Aber er kam mit dem Krieg nicht zurecht. Ich weiß nicht, was er alles gesehen hat, als er im Irak war. Aber er hat es nicht ausgehalten. Als ich vor drei Jahren bei ihm war, habe ich ihn kaum wiedererkannt. Er war immer ein fröhlicher Mann gewesen, der gelacht und gesungen hat. Der Mann, den ich getroffen habe, war abgemagert, sagte kaum ein Wort. Begann immer wieder zu zittern. Trank. Gelacht und gesungen hat er nicht mehr. Es war schlimm. Nadja hat zu ihm gehalten, hat gesagt, das wird alles wieder besser. Aber ich habe auch die Kinder gesehen. Georgji, der älteste, und Lina, die zweite, damals noch ein Baby. Und Georgji wirkte fast wie sein Vater. Nadja hatte es damals schon nicht leicht.
    Vitali hat irgendwann versucht, sich umzubringen. Wahrscheinlich, weil er keinen Job mehr hatte. Es klingt für mich immer seltsam, wenn die Leute in Deutschland über Hartz IV jammern. Es gibt Menschen, für die wäre Hartz IV ein Segen. Also, um es kurz zu machen: Nein, meiner Schwester geht es nicht gut in Odessa. Drei Kinder und einen arbeitslosen Mann, dessen Schusswunde verheilt ist, dessen Seele aber nicht heilen kann.«
    Während der letzten Sätze hatte auch ihr Tonfall die Bitterkeit angenommen, die das Lachen schon vorweggenommen hatte.
    »Als Ihre Schwester jetzt in Deutschland war – da haben Sie sich nicht gesehen?«
    »Nein. Ich wusste bis gerade eben gar nicht, dass sie hier war.«
    »Hat Nadeschda eine Tante in Deutschland? Ist es möglich, dass sie hier in Deutschland eine Erbschaft gemacht hat?«
    »Von der Seite unserer Familie aus nicht. Außer mir wohnen alle, auch die entfernten Cousins und Cousinen, Tanten, Großtanten und Omas, in der Ukraine. Ich bin sozusagen das schwarze Schaf. Ob Nadeschdas Mann in Deutschland Verwandte hat – das weiß ich nicht. Glaube ich aber nicht.«
    »Tatüüü, tatüü«, hörte Margot. Der Junge hatte den Einsatzbereich seines neuen Feuerwehrautos auf den Flur ausgeweitet. Margot drehte sich um, und ihr Blick fiel auf eine Galerie von Familienfotos.
    Irina Gölzenlamper stand auf, was Igor offenbar als Aufforderung verstand, die Flammen zu löschen, die vor seinem geistigen Auge Esstisch und Stühle aufzufressen drohten.
    »Igor – hier im Wohnzimmer ohne Geräusche«, sagte Irina Gölzenlamper.
    Das Feuerwehrauto schaltete das Signal ab und den Motor auf Elektromodus.
    Irina Gölzenlamper griff zu den Bildern, nahm sie und brachte sie zu Margot.
    »Das Bild wurde gemacht, als wir meine Hochzeit gefeiert haben. In meinem Dorf. Meine Familie wollte nicht, dass ich nach Deutschland ging. Aber eine große Hochzeit war es dann doch«, schmunzelte sie. »Das ist mein Mann Karl.« War nicht zu übersehen, da sich die Braut in Weiß an ihn schmiegte. Karl Gölzenlamper war gut einen Kopf größer als seine Frau. Er musste sich in dieser Wohnung wie in einer Puppenstube fühlen. »Das ist Nadja.« Margot erkannte Nadeschda Pirownika.
    »Meine anderen Schwestern Katja und Vika und meine Brüder Viktor und Oleg, alle mit ihren Familien. Und hier, das sind meine Eltern.«
    Irina zeigte noch ein Hochzeitsbild, auf dem nur sie und Karl zu sehen waren. Und dann ein Bild, das Igor als Baby zeigte. Sie stellte die Bilder wieder zurück auf das Bord.
    »Wenn sich Ihre Schwester bei Ihnen meldet – darf ich Sie bitten, mich dann

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