Engelsblut
Witwenschleier, der bis zu den Knien reiche. Sie glich einer Krähe, wohingegen ich helle Kleidung trug. Fiebrig froh nahm sie den Arm, den ich ihr darbot, und forderte: ›Tanzen Sie mit mir – tanzen Sie mit Ihrer schwarzen Braut.‹ Da tanzten wir – und wir tanzten so lange, bis sie ohnmächtig und Blut spuckend niedersank.«
Andreas blickte zaghaft von der Hecke fort. Sie würde zum Gestrüpp verkommen; das Unkraut würde sie ersticken. »Und darum meidet Ihr die Liebe?«, fragte Andreas ein drittes Mal, als der Abend endgültig zu erblinden drohte.
»Nein, nicht deswegen«, bekannte Doktor Mohr und fuhr weiter fort: »Angelika starb einen Tag später. Mit ihrer schwarzen Witwentracht wurde sie vor den Hausaltar gebettet. Ich ergriff ihre Hand und ertastete keinen Puls. Ich beugte mich über ihr Gesicht und vernahm keinen Atem. Ich berührte ihre Brust, und darunter schlug kein Herz. Lange bin ich bei ihr geblieben, fühlte, wie sie kälter wurde, fühlte, dass ich sie nicht hatte retten können, fühlte, wie ich gelogen hatte. Als die Verwesung einsetzte, forderte man mich auf zu gehen. Ich blieb. Ich stellte mir vor, wie es gewesen wäre, sie als Frau zu haben und mit ihr durchs Leben zu gehen. Ich stellte mir vor, mit ihr Kinder zu haben und glücklich zu sein. Ich stellte mir vor, sie zu lieben.«
Andreas stand auf, und mit ihm erhob sich der Doktor. Sie überblickten den See nicht mehr. Er war mit der Dunkelheit zerflossen.
»Der Tod machte sich einen Spaß mit mir«, beendete Doktor Mohr seine Erzählung. »Anstatt meine Lüge zu verzeihen, gaukelte er mir deren Wahrheit vor. Anstatt mich von Angelika zu erlösen, band er mich an sie fest. Ich wollte ihren Leib zum Leben zwingen, und weil das nicht gelingen wollte, so träumte ich davon, sehnte mich danach, wünschte und erhoffte es mir. Angelika war tot, und ich liebte sie.«
Andreas schwieg.
»Ich habe herausgefunden, dass es die Liebe nur gibt, weil es den Tod gibt«, erklärte Doktor Mohr schließlich. »Wo kein Tod ist, ist keine Liebe. Wo keine Liebe ist, ist keine Unvernunft. Wo keine Unvernunft ist, beginnt das Reich der Wissenschaft. Ich bin gut aufgehoben hier. Ich locke Gevatter Tod herbei, ich kann ihn bereits riechen und spiele mit ihm, aber am Ende bleiben die Menschen am Leben. Gerade genug lasse ich ihnen vom kostbaren Lebenssaft und lache solcherart dem Tod ins Gesicht, lade ihn ein, aber bin stärker als er. Es gibt nichts, was ich Euch zu vergeben habe.«
Lange sah Andreas dem Doktor nach, als jener gegangen war. Er wartete auf die tiefschwarze Nacht und erlaubte sich noch einmal, ans Aufhören zu denken. Er stellte sich vor, wie er blind und tastend den Garten verlassen und dorthin hochsteigen würde, wo über dem See der Wald begann. Er stellte sich vor, wie er tief hineingehen und sich an den Bäumen die Stirn anstoßen würde, wie Äste seine Haut zerkratzen würden. Mit geschlossenen Augen würde er um einen hohen, festen Ast ein Seil knüpfen, sich hernach auskleiden und nackt erhängen.
Lena wird mich finden, dachte er, weil der Gedanke daran so gnädig war. Das ockergelbe Laub des Waldes wird rascheln. Die laute Farbe wird wie unter einem milchigen Firnis liegen. Die Bäume werden schwarzen Kohlestrichen gleichen.
Sie wird mich finden, wenn die Verwesung schon begonnen hat. Das Gewicht des toten Körpers hat den Ast, an dem ich hänge, hinabgezerrt, sodass meine Fußspitzen den Boden berühren. Sie wird mir als nacktem Toten, dessen Glied von der Qual des Strangulierens aufgerichtet steht, in die Arme laufen. Und wenn sie mich riecht, wird sie die Schuld erahnen, die mich dazu trieb.
Er stand auf, beschloss, nie wieder von seinem Tod zu träumen, und packte ein kleines Bündel mit Geld, Kleidung und Proviant. Dann ging er hin, um von Grothusen Abschied zu nehmen.
Jener war der Letzte, mit dem er sprach.
»Ich werde weiterleben«, erklärte Andreas schlicht. »Ich werde weiterleben. Wenn mir der Verrat nicht erlaubt sein soll, warum dann der Tod?«
Grothusen hatte mit Andreas immer wenig zu schaffen gehabt. Nun, da jener entschlossen vor ihm stand und kein Zaudern kannte, war es ihm, als sehe er ihn zum ersten Mal.
»Was redest du denn da?«, fragte er verwirrt.
Andreas sprach ohne Aufregung.
»Wenn niemand mir die Schuld daran gibt, Samuel groß gemacht zu haben, dann lohnt es sich nicht zu sterben. Für welches Vergehen verdiene ich Strafe, wenn nicht für dieses? Wofür sonst sollte ich mir einen Strick um den
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