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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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das Leben so zurechtzubiegen, dass es romantisch genug wäre, sich seiner freudig anzunehmen. Die Tante war nicht nur faul, sondern hatte sich fürs reglose Verfaulen entschieden und ebenso dafür, den Kindern eine Zukunft vorzusetzen, die Marthe schon als Kleinkind stank. Wenn sie viel Glück hatte, würde sie einen Mann finden, der nicht schon vor der Geburt beschlossen hatte, verwelkt zur Welt zu kommen oder wie die Tante schadenfroh daran festzuhalten, die Menschen um sich so vertrocknen zu lassen wie das eigene Pflänzchen.
    Marthe entschied verbissen, sich nicht von der Tante züchten, umpflegen und beschneiden zu lassen, sondern ihre eigene Gärtnerin zu sein. Womit und wann man sich am besten pflegte, entzog sich ihrem Wissen. Nach gewisser Übung zeigte sich, dass sie am geradesten wuchs, wenn sie hervorstach und überraschte. Sie entschied sich für Kleidung, Schuhe, Hüte und Pferde, für geschlitzte Puffärmel, gefaltete Kragen und breit ausladende Spitzenornamente – folglich für Vorsprung und Schnelligkeit. Und sie dachte, dass sie all dieses mit Samuel gemein hätte.
    Nun stellte sich heraus, dass jener gefährlich war. Sie blieb betroffen, konnte es nicht verbergen und ließ sich von der Schwester schließlich seinen Namen als Ursache der Missstimmung hervorlocken. Jene warnte sogleich. Dies, dachte Marthe sich erstmals aufbäumend, mochte nicht zählen, denn die Schwester warnte auch vor kecken Dekolletés, überladenem Schmuck und aufdringlichen Gürteln.
    Er sei nicht für einen tugendsamen Mann zu halten, bekam sie zu hören.
    »Und wer mag sagen, was tugendsam ist und was nicht?«, widersprach Marthe. »Was ist, wenn der Entscheid darüber dem Zufall unterliegt – in gleicher Weise, wie das, was wir tragen, nur zufällig züchtig oder vornehm oder aufreizend oder vorlaut ist?«
    Da die Schwester ihr nicht antwortete, blieb es beim sachten Einwurf. Kaum war er ausgesprochen, folgte neuer Zweifel. Der Mann, der anders war als sie, gehörte zu den Abartigen. Bei ihm galt kein Kokettieren. Er wollte sie nicht malen, sondern nur ihr Blut bekommen.
    Eine ganze Woche versuchte sie, ihn aus den Gedanken zu treiben, verbannte sein Ansinnen und ließ sich eine neue Capote machen. Sie stritt mit der Tante darüber, die das teure Blendwerk verteufelte, und mit der Schwester, die der Tante wie stets Recht gab.
    Der Salon war überhitzt wie alle Räume, in denen sie lebten. Die Tante saß auf dem Sofa und schmatzte kandierte Veilchen. Davon gab es reichlich – anstelle der Zukunft.
    »Ich war zu mild mit dir!«, geiferte die Tante, verärgert, dass die Nichte nicht aufhörte zu trotzen. »Ich habe dir zu viel durchgehen lassen! Ich habe dir zu viel Freiheiten gelassen!«
    »Was man will, muss man sich nehmen!«, rief Marthe. »Und was ich mir leisten kann, werde ich mir kaufen!«
    »Magst Hüte erwerben und Kleider und Pferde!«, entgegnete die Tante herrisch. »Es ist vom Erbe deiner Mutter! Aber mehr als wir anderen kriegst du nicht – wie sollte es dir zustehen! Das Leben lässt nicht mit sich handeln. Es hat einen mächtigen Verbündeten – die Zeit, und diese Zeit sorgt, dass dir kein Hut und kein Kleid hilft, wenn du alt und runzelig wirst und alles vergebens war.«
    Die Schwester beschwichtigte, die Tante lachte blechern. Marthe schüttelte ungeduldig den Kopf.
    Die beiden begreifen nicht, dachte sie, was Mode heißt.
    Mode hieß, auf den morgigen Tag vorgreifen und das, was noch nicht gefiel, aber gefallen würde, zum eigenen Besitz zu erklären. Mode hieß, den morgigen Tag für sich zu beanspruchen. Mode hieß, die Macht der Gewohnheit und Trägheit außer Kraft zu setzen.
    Zum ersten Mal nach Tagen dachte sie wieder an Samuel, vergaß, dass er gemein, abartig und irr war, und überlegte stattdessen, ob er denn – gesetzt, dass man der Zeit entgehen könne, indem man der Zeit voraus sei – vielleicht der modernste Maler war.
    Sie verließ das warme Zimmer, die Tante, die Schwester, ließ einen Arzt rufen und erklärte ihm, sie habe Ohrensausen und litte unter Schwindel. Es sei also ratsam, einen Aderlass vorzunehmen.
    Marthe lag, während der Arzt sie zur Ader ließ. Beim ersten Mal brachte sie es nicht fertig zuzusehen, wie ihr das Blut gezapft wurde. Erst später, als es alltäglich war, beobachtete sie bleich, wie der Doktor ihr den Arm abband, mit einer Fliete schräg in die Armbeuge schnitt, die Staubinde wieder abnahm und mit einer dreikantigen Spitze das Blut herausfließen ließ. Es

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