Engelsblut
war so viel, wie in einem Weinglas Platz fand.
Sie gewöhnte sich an den Anblick, und ebenso gewöhnte sie sich daran, den Arzt stets aufs Neue zu belügen, mehrmals wöchentlich seinen Besuch zu erbitten und ihm trotz Widerstrebens den Aderlass aufzuschwatzen. Am Anfang gab er sich mit dem Verweis auf Ohrensausen und Schwindel zufrieden. Später bohrte er nach, verweigerte die Blutabnahme, weil sie blass und müde aussah, ließ sich erst nach langem Zureden davon überzeugen, dass schlechte Säfte durch ihren matten Körper flössen und hinaus müssten. Sie könne nicht mehr essen und nicht schlafen, behauptete Marthe. Des Weiteren habe sie gehört, dass bei den hohen Damen der Aderlass so üblich sei wie in früheren Jahrhunderten, dass man Gleiches schließlich auch von der Erzherzogin Maria Leopoldine vernommen habe, die ins ferne Brasilien verheiratet worden war und dort gegen das heiße Klima mit jährlich an die hundertfünfzig Aderlässen behandelt worden wäre. Dass sie dies wusste, der Arzt aber nicht, gereichte ihr zum Vorteil. Später log sie von Schmerzen am Fußknöchel und dass an dieser Stelle, wenn schon nicht mehr am Arm, das Blut abfließen müsse.
Mittlerweile sah sie der Behandlung gerne zu. Der Anblick ihres Lebenssaftes beruhigte sie. Er beruhigte so sehr, dass sie vergaß, auf dem neuen Pferd auszureiten oder einen Hut zu kaufen. Sie wurde schweigsamer, zurückhaltender, barg ihr Geheimnis hinter einem glatten Gesicht. Sie kämpfte nicht mehr um die Zukunft, weil sie jetzt eine hatte, und diese Zukunft besagte, dass Samuel von Altenbach-Wolfsberg der modernste Maler wäre. Sie aß nicht mehr, weil der Lebenshunger gestillt war; sie fiel in Ohnmacht, aber die Schwärze erschreckte sie nicht. Marthe dachte, dass sie gegen das Leben und die Zeit gewonnen habe, und weil sie so dachte, gab sie das Feilschen auf, verzog sich in sich, wurde, ohne es zu merken, verdrossen, schwach und mutlos. Sie hatte keine Ziele mehr. Stundenlang blieb sie im Bett hocken, manchmal auch im schwülen Salon ihrer Tante, sprach mit jener, pflichtete ihr bei, aß gezuckerte Veilchen. Am Ende war es das Einzige, wovon sie lebte. Sie konnte nicht mehr reiten, der frische Wind machte sie frieren, die langen Waldspaziergänge von einst strengten sie an. Ihre Augen waren rotgerändert, ihre Wangen bleich. Seltene Gäste bezeugten, dass sie mehr und mehr der Schwester gliche, und die Tante lächelte darüber, zufrieden, weil sie Recht bekommen hatte – Hoffart und Lebensmut setzen sich eben nicht durch. Nur wenn es niemand bemerkte und niemand ihr dieses Schwächeln vorwerfen konnte, blickte sie ratlos auf die Nichte, fragte sich, was mit ihr geschehen sei, und dachte sich im Stillen, dass ihr Anblick traurig stimmen würde – wenn sie, die Tante, das Vermögen zur Traurigkeit nicht längstens aufgegeben hätte.
Samuel war der Einzige neben Schwester und Tante, der Marthe zu Gesicht bekam. Anfangs ritt sie zu ihm – später ließ sie sich mit der Kutsche fahren. Um ihren Hals gehängt, einem außergewöhnlichen Schmuckstück gleich, trug sie das Fläschchen mit ihrem Blut. Sie hielt es umklammert während der Fahrt und tröstete sich gegen den Schwindel mit dem Gedanken, dass es dereinst nicht nur modern sein könne, mit Menschenblut Engel zu malen, sondern auch, ein solches Fläschchen wie ein großes Amulett um den Hals zu tragen. Wann immer sie es Samuel überreichte, war es nass vom kalten Schweiß ihrer Hände. Er spürte diesen nicht, sondern nahm ihr Opfer gleichmütig hin, ohne dafür zu danken oder dessen Außergewöhnlichkeit zu bekunden. Es deuchte ihn so selbstverständlich wie seine Absicht, mit ihrem Blut zu malen.
Mehr Kopfzerbrechen machte ihm, die Mixtur zu finden, mit der sich das Blut recht verarbeiten ließ. Unverdünnt aufgetragen wurde es stinkend und braun. Mit fertigen Farben vermengt, verlor es seine Substanz. Nachdem er von Ludovicus Rottermann die Herstellung aller Farben gelernt hatte, begann er nun aufs Neue zu experimentieren. Er mischte das Blut mit Eigelb, mit Bier, Nussöl und Milch und wurde enttäuscht. Was herauskam flockte oder war bläulich oder ließ sich nicht zum Pigment verfestigen. Er verrührte das Blut mit saurem Essig, ließ beides zum Staub vertrocknen und löste diesen in heißem Öl auf. Doch anders als bei Pflanzenstoffen taugte dies nicht zur zähen Masse, mit der sich Farbe machen ließ, sondern verdampfte und verflüchtigte sich. Zuletzt, beinahe zwei Monate später,
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