Engelsblut
ihn aus Cronberg verjagt und Lena nicht weiß,
wie Fisch schmeckt
Lena mied es, allein mit Doktor Simon Grothusen zu sein.
Nie benannte sie ihre Furcht vor ihm und ihr heimliches Begehren, sondern folgte Samuel willig in das beständige Leben, das er in Cronberg aufnahm. Ihr Misstrauen vor seinem treuesten Beschützer gab sie jedoch nicht auf. Sie beobachtete und prüfte ihn. Sie bewachte alles, was er tat, und bewahrte jedes Wort, das er über sich verriet. Sie versuchte, dünne Grenzen zu ziehen – zwischen ihm und sich und zwischen ihm und Samuel. Ins Gesicht blicken konnte sie ihm dabei nicht. Sie vermochte nicht zu vergessen, dass seine Hände stark waren wie ihre und dass seine Vergangenheit gestunken hatte wie das eigene Leben, ehe sie Samuel getroffen hatte.
Simon Grothusen selbst verhielt sich, als würde er ihre Gesellschaft nicht suchen. So wie sie ihm auswich, vermied er den Anschein, sich ihr aufzudrängen. Seine Augen streiften ihre Gestalt nur flüchtig, wenn er über sein bisheriges Leben sprach.
Dieses geschah zögerlich und über viele Wochen verteilt. Er bekundete häufig, dass dieses bisherige Leben nicht zähle, sondern nur seine Liebe zur Kunst, dass jene mit Biografischem nicht erst erklärt werden müsse, sondern absolut sei, dass alles, was ihn betreffe, langweilig sei, sofern nicht auf die Kunst ausgerichtet. Dennoch gab er sich nicht verschwiegen wie in den ersten Tagen. Wenn Samuel fragte, was ihn antriebe, antwortete er freimütig, zog über sein Leben her, als hätte es nichts mit ihm zu schaffen, und legte seine Vergangenheit bloß, als wäre sie damit ein für allemal erledigt.
Wenn er erzählte, erklärte er so deutlich, wie er es zu Lena gesagt hatte, dass er in gleicher Weise, wie er Kunst liebte, Fisch hasste.
Alles konnte man ihm vorsetzen, alles konnte er genügsam von der Welt entgegennehmen. Fisch aber war ihm unerträglich. Fisch wollte er niemals essen müssen.
Als er geboren wurde, scherte sich das Leben nicht um diese Abneigung. Es machte sich einen Spaß mit ihm und ließ ihn dort die Welt erblicken, wo es nichts anderes gab als Fisch, wo sich die Menschen an Fisch abarbeiteten und wo jeder, dessen Leben nicht aus Fisch bestand, kein Leben hatte – weil es sonst nichts gab.
Ein Fischerdorf in Husum war seine Heimat gewesen. Die ersten Worte, die man ihn zu sprechen lehrte, waren Leng, Dorsch und Hecht. Noch ehe er laufen konnte, hatte er gelernt, wie Muschelköder an Fanghaken anzubringen waren, ohne dass man sich die Hände aufriss. Über den Bootsbug kotzend war er mit Vater und Bruder zu den Inseln und Halligen ausgefahren, hatte mit Reuse, Stellnetz oder Aalstecher in den Prielen gefangen, Krabben, Butt und Aal in schweren Kiepen stundenlang zur nächsten Stadt geschleppt.
Samuel hörte ungerührt zu, wenn er davon erzählte. Andreas glotzte; Lena blickte verlegen zur Seite. Manchmal zuckte Simon Grothusen gelangweilt mit den Schultern, als wollte er sich an dem hinterfotzigen Leben mit Gleichgültigkeit rächen. Jenes hatte ihn im Übrigen mit seiner Abneigung nicht nur an den falschen Ort gestellt. Es hatte auch nicht sonderlich hoch auf ihn gewettet.
Er war nicht nur ein verfluchter Fischersohn, sondern kam obendrein als dreizehntes Kind aus dem ausgezehrten Leib einer Mutter herausgequollen, die ihn nicht nähren konnte. Eine Schwester gab ihm die Brust, die selbst schwanger gegangen, der aber das Kind abhanden gekommen war. Zuvor hatte sie mit dem eigenen Vater das Bett geteilt. Im Winter schlief in einer Fischerklause in Husum niemand gerne allein. Weil es stets so kalt war und weil der Vater die Schwester hatte, um sich zu wärmen, er, Simon, aber niemanden, beschloss er, dass er nie mehr frieren, sondern in den Süden ziehen wollte.
Was dort im Süden außer der Sonne auf ihn warten würde, wusste er nicht. Vorerst stellte sich heraus, dass er klug war. Simon Grothusen hatte in der Welt der gesalzenen Heringe, der Anchovis, der Klipp- und Stockfische nichts zu suchen, aber er war befähigt, sich beim Pastor talentreich zu prahlen und zur Pfarrerausbildung hoch zu schummeln. Als Stipendiat eines bigotten Frömmlers studierte er Theologie und Philosophie, machte in letzterem Fach sein Doktorat, aber verlor zeitgleich mit dem Abschlussexamen seinen Glauben. Als er seinem Gönner offenbarte, Gott niemals seinen Hass auf Fisch zu verzeihen, wurde er von jenem verjagt.
Was der Süden zu bieten hatte, wusste er damals immer noch nicht. Da er aber nicht
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