Engelsblut
Blick löst sich nicht von meinem, doch es steht keine Warnung vor sich selbst mehr darin. Es scheint nicht wahr zu sein, dass sie je mit mir gesprochen hat.
Um das Schweigen zu beenden, setze ich ungelenk zu reden an. »Ich heiße Moritz Schlossberg«, erkläre ich mit rauer Stimme. »Ich bin aus Wien hierher gekommen... «
Es scheint unmöglich, sie zu einer Bewegung zu verführen und ihr Vertrauen zu gewinnen.
Dann fällt mir trotzig ein, dass ich ihr Vertrauen nicht will. Ich bin nicht freiwillig in den stickigen Raum geraten – zu einem Weib, dessen Schwachsinn manche für Gottes Strafe halten. Ich will mich nicht bedanken müssen, bei ihr weilen zu dürfen.
Lauter fahre ich fort und versuche, Vernunft in die kargen Wände zu bringen.
»Ich bin Kunstkritiker«, erkläre ich streng, »in den letzten Jahren war ich damit beschäftigt, den Zeugnissen der großen Malerkolonien unseres Jahrhunderts nachzuspüren. Von Barbizon. Vom Chiemsee. Von Cronberg. Ich erhoffte mir hiervon jene Natürlichkeit und Schnörkellosigkeit, die ich von der bildenden Kunst erwarte – das Echte, nicht das Eingebildete ...«
Sie blickt weiter ausdruckslos. Es fällt auf, dass ihr Körper gespannt ist. Sie sitzt nicht zusammengesunken, sondern aufrecht wie auf einem Thron. Ein seltsamer Starrsinn liegt in ihrer Haltung, die auf jede Bewegung verzichtet. Sie hat nicht genickt, als ich kam – und tut es auch nicht, da ich rede.
»Über Künstler dieser Schulen bin ich auf Samuel Alts Namen gestoßen. In den Lehrbüchern findet er selten Erwähnung – in geheimen Gesprächen zwischen Kunststudenten umso häufiger. Ein Schüler sagte mir, auch er habe einer Kolonie vorgestanden – er hieß Bartholomé Vernez.«
Ihr unbewegtes Schweigen hält weiter an. Sie verrät nicht, ob sie den Namen kennt.
»Nun denn«, sage ich unschlüssig, »nichts weiter begehre ich, als jenes Bild zu sehen, von dem es heißt, es sei das wahrhaftigste, das Samuel Alt je gemalt hat, jenes Bild, das kurz vor seinem Tod entstanden ist, sein letztes ... «
Es scheint, als würde sie nicht atmen. Ihre Brust hebt und senkt sich nicht.
»Es ist nicht so«, fahre ich hastig fort, weil das Schweigen übermächtig wird, »dass man mich schickte ... Ich kam aus freien Stücken und aufgrund meiner Entscheidung. Bis auf weniges, was mir zudem nicht beglaubigt ist, weiß ich nichts von Samuel Alts Leben ... «
Ihre Regungslosigkeit macht das Zimmer zum Sarg.
»Es ist aber auch ein Gutes«, sage ich und höre meine Stimme lauter und hektischer werden, »ein Gutes, dass ich nicht allzu viel weiß. Meine Überzeugung ist, dass das Schicksal eines Künstlers nicht größer sein dürfe als sein Werk. Habt keine Sorge also, dass ich Euch bedrängen möchte, jene dunklen Geschichten zu erzählen, die manchmal um seinen Namen aufgebauscht werden. Ich würde es vorziehen, man könnte alle Gerüchte endlich vergessen, auf dass sich die Fachwelt seinem eigentlichen Erbe zuwende – und dies scheinen mir die Bilder zu sein, von denen es bislang nur wenige zu entdecken gab.«
Versteht sie nicht? Hat man mich nicht nur zu einer Verbannten, sondern einer vollkommen Tumben geschickt?
»Nein«, wiederhole ich entschieden. »Nein, ich will nichts hören aus dem Leben von Samuel Alt. Ich will nicht mit Geschichten abgefertigt werden. Das von ihm Sichtbare soll mir einziges Kriterium für mein Urteil sein – ganz gleich, was er getan hat und wessen man ihn beschuldigt ... Glaubt mir, ich bin keiner, der nach Skandalen kramt, ich will größtmögliche Objektivität und Wahrheit, ich will...«
Da kriecht ihre Stimme ein zweites Mal aus dem Körper – diesmal langsamer, aber auch beständiger.
»Ihr müsst gehen!«, unterbricht sie mich.
Noch während sie spricht, wendet sie sich ab. Ihr wacher Blick wandert fort, verlässt den Raum, verlässt auch mich. Vielleicht ist er bei Samuel, der zwanzig fahre tot ist.
Dann, unendlich später, gönnt sie sich eine Atempause, stiehlt sich vor ihren Erinnerungen davon und schafft sich ein kleines Stückchen Raum, der nicht versteinert ist.
»Ihr müsst so schnell wie möglich von hier fliehen. Ihr dürft nicht bleiben. Und Ihr dürft niemals Samuels letztes Bild sehen! Es ist das schrecklichste Bild, das jemals gemalt wurde!«
»Ich ließ meinen Engel lange nicht los,
und er verarmte mir in den Armen
und wurde klein, und ich wurde groß.«
RAINER MARIA RILKE
SECHSTER TAG
Es ist zu erzählen, wie Grothusen ein Bild anpreist,
Samuel
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