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Engelsblut

Engelsblut

Titel: Engelsblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kroehn
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dahinter verbergen ...«
    »Ihr müsst davon hören!«, besteht sie. »Ihr müsst verstehen, warum Grothusen mich hasst! Denn das tut er doch, nicht wahr?«
    »Aber Lena«, wiederhole ich. »Was geschehen ist, darf keine Rolle spielen für mein Urteil! Zeigt mir das Bild – zeigt es mir einfach!«
    Sie schüttelt müde den Kopf.
    »Ihr müsst die Geschichte erfahren. Ihr müsst hören, warum es gemalt wurde!«
    »Macht es Euch nicht so schwer, Lena! Das verlangt niemand von Euch! Das kann auch dieser Grothusen nicht verlangen.«
    »Hat er Euch das gesagt?«
    Wir reden aneinander vorbei und erreichen uns nicht. Seufzend suche ich den Platz vor ihren Füßen, um mich beschwörend vor sie hinzuknien. Erstmals spüre ich, wie sie atmet – so vorsichtig, als sei die Luft zerbrechlich. Lena selbst scheint nicht länger in Stein gehauen, sondern besteht aus empfindlichstem Glas. Durchsichtig lädt es mich ein, in sie zu lugen – und obwohl ich mich noch immer dem verweigern will, was sie mir zu erzählen versucht, kann ich nicht von ihr lassen.
    »Wenn Grothusen nicht gewollt hätte, dass ich das Bild sehe, hätte er mich nicht hierher geschickt«, rede ich aufs Neue auf sie ein. »Vielleicht weiß er besser als Ihr, dass ein Künstler nicht nur zählt, wenn er Schönes schafft! Es kommt darauf an, ob er mit der Intensität und Wahrheit, mit der er malte, Menschen zu berühren weiß. Und dieses verspricht doch Samuel Alt, wenn er selbst zwanzig Jahre nach seinem Tod noch solche Spuren in Eurem Gemüt hinterlässt. Ein Künstler soll uns nicht nur erfreuen! Wenn man über sein Bild erschreckt, so mag dies meinen, er führte uns eine Wahrheit vor, die wir ansonsten verkennen!«
    Verloren betrachtet sie ihre Hände. Sie ruhen in ihrem Schoß – und um meinen Zuspruch zu bekräftigen, vermag ich nicht anders, als zuzugreifen und eine dieser Hände in meine zu nehmen. Sie lässt mich gewähren, wiewohl ihre Finger schlaff bleiben. Sie packen das Leben nicht. Vielleicht haben sie nie wieder etwas berührt, seit Samuel Alt tot ist.
    »Lena«, stammele ich – und frage mich, ob ein höflicher Kuss die Hände erwecken könnten. Wie würde ihre Haut schmecken? Wie würde sie sich unter meinen Lippen anfühlen?
    »Ihr habt ja keine Ahnung«, murmelt sie. »Samuel musste sterben, weil er dieses Bild malte.«
    »Habt Ihr ihn getötet?«
    »Ich kann es Euch nur zeigen, wenn Grothusen mir verziehen hat.«

»Schon deine Statue zerbrochen,
    verstümmelt der schwarze Engel,
    Gefährte unserer Spiele
    und unsrer fiebrigen Melancholien.«
    CLAIRE GOLL

NEUNTER TAG
    Es ist zu erzählen, wie Grothusen eine
    tiefe Verzweiflung befällt, Andreas an sich riechen lässt
    und Lena Samuels Finger bricht
    Von nun an führte Samuel das Dasein eines Verbannten.
    Er verkroch sich in seine Kammer und blieb dort einsam hocken – der Menschen und ihrer aufdringlichen Leidenschaften entledigt, der Sonne entwöhnt, einzig der Engelmalerei geweiht. Mit Hingabe widmete er sich dieser und gab den fernen Himmelsbewohnern alle Gestalten, die ihm möglich schienen: klein, putzig und rundlich, zart, groß gewachsen und schlank, kindlich rein und überirdisch schön, sachte über den Boden schleifend oder hoch droben in den Wolken schwebend. Verbissener noch als früher vertiefte er sich des Nachts in sein Werk, und wenn der Morgen dämmerte, so fühlte er für kurze Zeit Zufriedenheit mit seinem Leben.
    Erst wenn er den Pinsel aus der Hand legte, wenn er nichts mehr zu tun hatte, als auf die nackten Wände zu stieren, dann beschlichen ihn jäh Erinnerungen an die einsame Kindheit bei der schweigsamen Felicitas. Er gedachte ihrer hilflosen Blicke, wenn sie ihn ansah, sich mit ihm verbündet fühlte und sich doch zugleich gewiss war, dass dieses Kind ihr kein Glück schenken würde.
    In solchen Augenblicken wurde ihm die Einsamkeit zum Fluch. Nicht länger war er ihr dankbar, weil sie die Menschen, die er hasste, von ihm fern hielt, sondern er schritt von ihr getrieben die Kammer auf und ab. Er verweigerte die feinen Speisen, die man ihm brachte – mit Pilzen gefülltes Rebhuhn, saftigen Wildschweinbraten, in Lorbeersauce oder in Wein geschmorte Wachteln. Nichts als trockenes Brot wollte er essen, das bereits hart geworden war und an dem er sich beinahe die Zähne ausbiss. Er würgte es widerwillig hinunter und warf die Teller und Schüsseln, in denen das edle Essen duftete, zu Boden. Dann wusch er sich mit eisig kaltem Wasser, um wach zu bleiben, sich der

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