Engelsblut
Türspalt bespitzelte.
Sein Gesicht zerfurchte sich, als er sie so bewachte. Es schien, als hätten viele kleine Pinselstriche Farbton um Farbton auf- und nebeneinander gelegt, um ihm Zornesröte aufzumalen. Was er sah, gefiel ihm nicht. Ihre Gefühle waren plötzlich nicht mehr stumm, sondern trugen ein lautes Gewand – sie waren als Flüche verkleidet, mit denen Lena ihren Zorn auf Grothusen beschwor, oder als Liebesbekundungen, mit denen sie und Andreas Samuels Namen zwischen ihre eng umschlungenen Leiber pressten.
Früher hatte Samuel sie nur kurz beobachtet. Jetzt, da er sich von ihnen überlistet wähnte, verbrachte er ganze Nächte an die Tür gepresst, vergaß zu malen und hing umso fester an ihnen, je weniger sie ihn erahnten.
Er hörte Lena erzählen, wie sie ihn das erste Mal im Abendlicht gesehen und wie sie sich daraufhin gewaschen hatte, und Andreas berichtete seinerseits, wie Samuel seine entblößenden Bilder gemalt hatte – zuerst beim Fest seiner Mutter Elsbeth, später bei der Hochzeit von Samuels Stiefbruder, wo Gräfin Marie wahnsinnig geworden war. Sie zerkauten sein Leben, indessen Samuel hungrig blieb, und erinnerten sich voll Inbrunst und Begeisterung an Augenblicke seines Daseins, die in seinem eigenen Gedächtnis keine Spuren hinterlassen hatten.
Wenn die Erinnerungen ausgelaugt waren, hetzte die flinke Lena Andreas durch blinde Schwüre und Vorsätze.
»Es zählt nicht, was ich will«, gab sie sich auf. »Was er von mir verlangt, werde ich tun, ganz gleich, was Grothusen plant.«
Andreas nickte andächtig.
»Ich habe mich ihm anvertraut – wie sollte ich’s darauf begrenzen, was mir angenehm ist. Wenn ein Opfer gefordert ist, so braucht Grothusen nicht zu denken, ich wäre zu schwach, es zu geben.«
Artig plapperte Andreas nach, von ihrer Nähe, ihrem Körper und ihrem Geruch erlöst. »Ja«, murmelte er, »ja, gewiss!«
»Ich liebe Samuel. Ich liebe ihn viel mehr, als Grothusen jemals lieben könnte!«, schloss sie.
Während sie seinen Kopf an ihrer Brust barg und ihn ihren Schweiß schnuppern ließ, sagte Andreas: »Ich liebe ihn auch.«
In einer Nacht, als er dies alles hörte, fühlte Samuel nicht nur Melancholie und Neid, sondern das Begehren, sie seinerseits festzuhalten. Kaum wissend, was er tat, und geleitet von dem hungrigen, rasenden Trieb, ihr Wesen zu ergreifen, ging er zu seinem Skizzenblock und malte nach fast zwei Jahren zum ersten Mal ein Bild, das Menschen zeigte.
Er malte Andreas und Lena, seine Begleiter und seine Antreiber, malte sie, wie sie über seinem schlaffen Leib hockten, wie sie ihn verzehrten, wie sie mit jedem Bissen verrieten, dass ihre Gefühle für ihn heftiger waren als alle, die er je in seine Engelbilder legen konnte.
Lange blickte er auf das Bild und erschrak selbst über die Wucht des Gemalten. Es ging ihm auf, dass Bartholomé Vernez und die anderen nicht vor seinen Engeln weinten und niedersanken, weil sie ergriffen waren, sondern weil sie sich gegenseitig übertrumpfen wollten. Es wurde ihm klar, dass Grothusen nur darum begeistert von seinen Engelbildern sprach, weil er gierig nach Geld war. Es ging ihm auf, dass das Bild, das er von Andreas und Lena gemalt hatte, grausamer und gewalttätiger und wahrhaftiger als jeder Engel war, an dem er über all die Monate gesessen hatte, dass sich Einsamkeit und Stille nicht lohnten.
Wie ein Rasender schritt er durch sein Zimmer, zerfetzte zwei unfertige Skizzen und schmiss Farben um sich, sodass sich die weißen Wände verfärbten. Er verbot den Künstlern, am Abend zu ihm zu kommen, verweigerte selbst das übliche harte Brot und wollte kein frisches Blut für neue Engelbilder. So lange stampfte er auf den Boden, bis sein Fuß schmerzte, und er hämmerte gegen die Wand, bis ihm die Faust taub wurde.
»Wie ich euch hasse!«, schrie er im Geiste die anderen Künstler an – und alle Menschen, die ihm jemals zugesetzt hatten. »Ihr denkt, ihr könnt mich mit euren erheuchelten Gefühlen zum Narren halten! Ihr denkt, ihr könnt an mir reich werden und mich hernach fallen lassen! Ihr denkt, dass ihr mich zwingen könnt, in eure Seelen zu gaffen und euch anstatt der Engel zu malen! O, wie ich euch hasse!«
Erschöpft fiel er nieder. Zuletzt war er so heiser, dass er nicht länger schreien, sondern nur das Bild zerreißen konnte, das er von Andreas und Lena gemalt hatte. Dann entschied er, dass er es ihnen nie wieder erlauben würde, sein Gemüt zu beherrschen und ihn solcherart zu besitzen. Wenn
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