Engelsblut
Engel malte, der die Menschen bis zum Grund ihrer Seele bewegte. Nur um zu vermeiden, dass Samuel ihn erneut entblößte, hatte er ihn auf dieses Motiv eingeschworen.
Nun aber verzweifelte er schier an dem Gedanken, dass Samuel seine Engel nicht so malen konnte, wie er Menschen malte, dass er einen Künstler geformt hatte, der nur verhieß, aber nicht erfüllte, dass jener nichts als ein Spiegel war, an dem alles, was man ihm entgegenbrachte, Liebe und Zuneigung und Wut und Hass, abprallte und zum Urheber zurückfloss.
Was habe ich nur getan?, durchfuhr es Grothusen schaudernd.
Er versuchte das Entsetzen fortzuschieben. Er versuchte sich einzureden, dass Samuel nichts als eine bemitleidenswerte Kreatur war, mit der er nichts zu schaffen habe. Doch auf das Bild starrend, fiel ihm nichts weiter ein, als dass er Fisch hasste und davor zu fliehen suchte, dass er von nichts anderem lebte als von Neid, weil er Fisch hassen musste, andere aber nicht, und dass er, egal was er tat, um sich an Samuel für diesen Neid zu rächen, am Ende einer bleiben würde, der dem Gestank von Fisch entfloh.
Würgend wandte er sich ab, fühlte sich allein in diesem Raum und losgelöst von allen Worten, mit denen sich seine Verzweiflung überbrücken ließe.
Als er sich mit zitternden Händen an die Stirn griff und fühlte, dass sie schweißnass war, entschloss er sich zur Flucht. Sie misslang bereits bei der Türe, wo Samuel sich vor ihm aufbaute.
»Lass mich vorbei!«, stöhnte Grothusen erstickt. »Lass mich vorbei! Du bist verrückt!«
»Nicht doch, nicht doch«, raunte Samuel. »Lauf nicht fort, Simon. Du bist es, auf den ich setze.«
Grothusen fühlte, wie ihm die Lippen taub wurden. »Nein«, stieß er hervor. »Ich bleibe nicht! Ich gehe fort von hier – noch heute! Mögen mich alle für einen Feigling halten, aber ich treibe dieses jämmerliche Spiel nicht mehr mit! Ich habe genug Geld an dir verdient!«
Mitleidig neigte sich Samuel vor. Anstatt sich von den Gefühlen des anderen zusetzen zu lassen wie einst und sie voll Neid zu verfluchen, nutzte er sie listig für sich. »Nicht doch, nicht doch«, wiederholte er raunend. »Du wirst mich nicht verleugnen, auch wenn du’s möchtest. Mich könntest du vielleicht verlassen – aber es gibt andere, von denen du dich niemals lösen magst!«
»Weg da!«, kreischte Grothusen hysterisch. »Weg da!«
»Nein«, flüsterte Samuel, griff nach den bebenden Händen des anderen, drückte sie lange und fest. »Du bist nicht nur meinetwegen hier. Du bist ihretwegen an meine Seite zurückgekehrt – und jetzt kannst du sie haben. Sie wird dich trösten und dich vergessen machen, was du von mir weißt. Sie wird stärker sein als deine Verzweiflung und es nicht wagen, dich ein zweites Mal abzuweisen.«
Grothusen starrte blicklos. Ohne seine Hand von ihm loszulösen und ihm das Zittern wieder zu erlauben, wandte sich Samuel um, öffnete die Türe und rief Lenas Namen. Leise, aber unmissverständlich. Er ließ sie seine Stimme das erste Mal nach vielen Monaten hören. Er zeigte ihr sein Gesicht und seine Gestalt.
Der Mund schien Grothusen auszutrocknen. Gleichwohl vermochte er nicht mehr zu gehen und von Samuel zu fliehen. Er starrte auf Lena, als sie ins Zimmer trat, und versuchte zu vergessen, dass sie Samuels Befehl folgte, nicht seinem.
Er sog sie mit Blicken auf. Dann sackte er vor ihr nieder, versteckte sich vor seiner Verzweiflung und packte blind ihre Beine.
Noch versuchte sie, sich von ihm zu lösen.
»Was tust du denn da?«, fragte sie unwirsch. »Lass mich los!«
Samuel jedoch, der nun endlich Grothusen freigegeben hatte, verbot ihr den Widerstand. Er legte seinen Arm um Lenas Schulter und raunte in gleicher Weise wie vorhin dem Doktor zu: »Aber nicht doch! Lass ihn gewähren! Nimm ihn für mich!«
»Lena«, stöhnte Grothusen. »Lena.«
Er hielt sie, als sei sie der einzige Mensch auf der ganzen Welt. Er fühlte nicht, wie sie erstarrte und hilflos auf ihn herabblickte. Schließlich erhob er sich, bis er auf gleicher Augenhöhe mit ihr stand.
»Lena«, wisperte er noch einmal. »Lena.«
»Verlang das nicht von mir!«, sagte sie tonlos, ohne dass sie sich wehrte.
Samuel streichelte sanft über ihr Gesicht. Grothusen riss ungeduldig an ihren Kleidern.
»Doch«, sagte Samuel kühl. »Doch, ich verlange es. Du hast doch stets geschworen, alles für mich zu tun. Du erklärtest, kein Opfer sei zu groß. Du wähltest die Liebe für einen wie mich. Und deswegen stehe ich
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