Engelsblut
er selbst in tiefster Einsamkeit nicht vor ihren Leidenschaften fliehen konnte, so war es angeraten, sich dieser zu bedienen und das elende Pack damit zu Fall zu bringen.
In einer der Nächte, da Samuel malte, rief er Simon Grothusen zu sich. Selten hatte jener den Maler in den letzten Wochen aufgesucht, und er sah auch heute keinen rechten Anlass, es zu tun.
Da Samuel aber hartnäckig darauf bestand, hockte er sich widerstrebend auf einen Stuhl und wartete, dass der andere mitteilen würde, warum er ihn geholt habe.
Samuel malte schweigend und lange über Mitternacht hinaus. Nur wenn Grothusen einzunicken drohte, räusperte er sich laut, um ihn zu wecken.
Beim dritten Mal, dass Samuel ihn nicht schlafen ließ, wurde der Doktor unwirsch.
»Was denkst du dir aus, Samuel?«, fragte er. »Soll ich dir helfen, dein Engelchen zu malen?«
»Nein«, gab Samuel ruhig zurück. »Nein, du sollst nur ein Urteil fällen über das Bild, an welchem ich seit Tagen werke.«
Grothusen schnaubte unwillig. »Und warum muss ich dir beim Malen zusehen? Warum wartest du nicht, bis dein Engel fertig ist?«
»Ich habe nie behauptet, dass es ein Engel ist, was ich gerade male«, bekannte Samuel.
Hastig steckte sich Grothusen eine Zigarre zwischen die bebenden Lippen.
»Ha!«, suchte er sein Unbehagen fortzulachen. »Willst mir einreden, du maltest einen Menschen, um ihn zu entblößen – vielleicht gar mich? Ach geh! Warum solltest du?«
Unruhig erhob er sich und begann auf und ab zu gehen.
Samuel zuckte nur mit den Schultern. Kalter Rauch umfing sein Gesicht, während der Doktor hektisch weiter paffte.
»Nur ruhig, ruhig«, warf Samuel grinsend ein.
»Nein!«, schrie Grothusen auf. »Hast keinen Anlass, Menschen zu malen, wo ich dir in den letzten Wochen doch so viel vom Lob berichtet habe, das deine Engelbilder erfahren! Und wenn du’s dennoch tust – ganz unsinnigerweise –, so könnte deine Wahrheit mich nicht entsetzen! Du hast keine Macht mehr über mich!«
»Nur ruhig, ruhig«, lachte Samuel erneut.
»Glaub nicht, dass du mich jemals wieder zerstören könntest! Wir wissen beide, was von mir zu halten ist.«
»Halt ein!«, lachte Samuel und fächelte sich mit den Händen klare Luft zu. »Ich male nicht dich! Ich male auch nicht Lena oder Andreas ...«
Grothusen schwieg verstockt. Die Ruhe wollte nicht zurückkommen. Vorsichtig beugte er sich über Samuels Staffelei, und Samuel ließ ihn gewähren und schob ihm das Bild zu.
Grothusen vergaß, an seiner Zigarre zu ziehen. Sie verglomm bis auf einen dünnen Rauchfaden, der gemächlich zur Decke stieg. Der Doktor starrte auf das Bild, erkannte den Dargestellten und schmeckte jenes Entsetzen, das ihn einst von Samuel fortgetrieben hatte und das ihn später jene Rache schwören ließ, die zu üben er zurückgekommen war.
Er hustete trocken. Er versuchte das Bild wegzublinzeln. Es half nicht.
Auf dem Bild war Samuel selbst dargestellt. Ein einziges Mal in seinem ganzen Leben – nie war es bisher geschehen, und hernach würde er es nie wieder tun – hatte er sein eigenes Gesicht gemalt. Was Grothusen in diesem Selbstporträt erblickte, war schrecklicher als alles, was er sich jemals über Samuel Alt ausgedacht hatte.
Es zeigte Samuel, wie er einen Engel packte, um ihm die Flügel auszureißen, wie er ihn niederrang und zugleich selbst zu Boden ging. Seine Gestalt war ob all der selbst auferlegten Askese erbärmlich mager. Seine Augen glichen gläsernen Löchern, in denen sich der Betrachter, nicht aber der Engel spiegelte. Sein Gesicht schließlich war verzerrt von der Anstrengung, den göttlichen Boten zu halten. Solches tat er nicht mit Bewunderung für das flügelschlagende Geschöpf, mit Vorsicht und Rücksichtnahme, sondern voll herzloser Rohheit. Schon war die eine Hand randvoll mit ausgerupften Federn. Schon war die innige Umarmung aufgegeben zugunsten eines erbitterten, gewalttätigen Kampfes. Nicht liebkosen und streicheln wollte Samuel den Engel, sondern besiegen und besitzen.
Er wird scheitern, durchfuhr es Grothusen, als er das Bild erschaute. Es wird ihm nie gelingen, in das Wesen der Engel zu blicken, es zu durchdringen und festzuhalten. Zu fremd ist ihm alles, was Engel verheißen; zu blind ist er für ihre leise Liebe. Er will, dass Menschen beben, weinen, schreien, wenn sie seine Engelbilder erblicken, will sie damit berühren und an sich fesseln, aber er müht sich vergebens.
Grothusen hatte nie daran geglaubt, dass Samuel einen vollendeten
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