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Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut

Titel: Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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unter dem Dach.
    Sie wollte eben das Gesicht an die Scheibe legen und in den Raum dahinter spähen, als die Tür von innen aufgestoßen wurde. Eine junge Frau zog zwei weiße Terrier an einer Leine hinter sich her.
    „Hallo“, murmelte Eve. Sie drängte sich an der Frau vorbei ins Foyer. Es gab keinen Empfangstresen, nur drei Aufzüge mit zerkratzten Fronten. Eve drückte den Rufknopf und betrachtete die Wände, während sie wartete. Die Stuckverzierungen ließen erahnen, dass dies einst ein schönes Haus gewesen sein musste. Doch der Anstrich war vergilbt und voller Staub, die Farben längst verblasst. Ein muffiger Geruch schlug Eve entgegen, als sich die Fahrstuhltüren öffneten.
    Als sie die Kabine nach einer gefühlten Ewigkeit im achtzehnten Stock verließ, hatte sie das Gefühl, in einer anderen Zeit gelandet zu sein. Der Korridor erinnerte an die Gangway eines Flugzeugs aus den Achtzigern. Ein brauner Filzteppich dämpfte ihre Schritte, die Decke flirrte in dämmrigem Licht. Eve lief den Korridor hinunter. Manche Türen waren mit Nummern beschriftet, andere starrten ihr leer entgegen. Filmplakate bedeckten die Wände. Irgendwo lief Fernsehwerbung, viel zu laut. Eve kam sich deplaziert vor.
    Sie könnte an einer der Türen klingeln, und es würde ihr ein Fremder öffnen, wahrscheinlich nackt mit einem Handtuch um die Hüften. Was sollte sie dann sagen?
    ‚Hi, ich bin Eve. Bewaffnet und gefährlich?‘ Sie wusste doch nicht einmal, ob wirklich Mister Schattenriss vor ihr stand oder nicht. Unschlüssig schaute sie sich um. Was für ein bizarrer Moment. Sie konnte das jetzt durchziehen, auf die Gefahr hin, sich komplett lächerlich machen. Oder sie konnte umkehren und auf dem Weg zurück noch im Supermarkt einkaufen, um wenigstens einen Teil ihrer Würde zu retten.
    Doch dann bemerkte sie, dass die Tür zu ihrer Rechten einen Spalt offen stand. Es brannte kein Licht auf der anderen Seite. Sofort richteten sich ihre Nackenhärchen auf.
    „Hallo?“, fragte sie halblaut. Stille quoll ihr entgegen. Sie tippte leicht gegen die Tür, so dass das Blatt nach innen schwang. Mit einem Mal schienen die Geräusche im Haus sich verändert zu haben. Der Fernsehsprecher klang jetztweiter entfernt. Etwas knackte hinter ihr. Sie warf einen Blick zurück. Eine der Leuchtstoffröhren an der Wand flackerte. Eine Diskontinuität, die sie zuvor nicht wahrgenommen hatte.
    „Hallo?“
    ‚Ich bin Eve, bewaffnet und gefährlich’. Sie tastete nach der Beretta in der Handtasche und schloss ihre Hand um den schweren Griff. Das Metall fühlte sich kein bisschen beruhigend an. Im Gegenteil. Sie hatte das Gefühl, über eine unsichtbare Grenze zu treten, als sie die Pistole entsicherte. Die Luft schien sich zu verdichten. Es roch anders als noch einen Augenblick zuvor. Oder sie hatte es schon die ganze Zeit wahrgenommen, diesen feinen metallischen Gestank, es nur nicht bewusst realisiert. Sie hob die Waffe und machte einen Schritt ins Dunkel.
    „Hallo?“, fragte sie zum dritten Mal. „Ist alles in Ordnung?“
    Der Boden unter ihren Füßen fühlte sich schlüpfrig an. Sie tastete die Wand nach einem Lichtschalter ab. Das Gefühl der Unwirklichkeit verstärkte sich. Als sie endlich den Schalter fand, flammte eine Deckenleuchte auf und enthüllte eine Art Studio. Vor ihr öffnete sich ein Raum mit hohen Fenstern. Eine Küchenzeile, ein Holztisch mit zwei Stühlen, eine umgestürzte Staffelei. Stahlregale säumten die Wände, ein Stapel Keilrahmen lehnte daneben. Kupfergeruch. Sie schluckte die aufkeimende Übelkeit hinunter. Angewidert richtete sie ihren Blick auf die dunkle Flüssigkeit am Boden. Sie brauchte sich nicht zu bücken, um zu wissen, dass es Blut war.
    Reflexartig wollte sie nach ihrem Handy greifen, dann fiel ihr ein, dass sie es in ihrer Wohnung vergessen hatte. Sie stand wie paralysiert, obwohl alles in ihr schrie, umzukehren und aus sicherer Entfernung die Polizei zu rufen. Die Blutschlieren zogen sich quer durch den Raum und verloren sich hinter einer halbhohen Mauer.
    Ein Windzug streifte ihre Haut und brach ihre Starre. Den Griff um die Pistole verstärkt, ging sie tiefer in den Raum. Mit einer Mischung aus Furcht und Faszination näherte sie sich der Mauer, die Waffe vor sich ausgestreckt. Sie spähte auf die andere Seite des Durchgangs und machte die Umrisse eines Bettgestells aus. Das Fenster war aufgeschoben und lenkte ihren Blick auf die blutverschmierte Brüstung. Sie ahnte, was sich hier abgespielt hatte.

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