Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
scharfen Schmerz wie bei Ravin. Da war nur eine vage Erleichterung und die Erkenntnis, dass Regeln und Traditionsbewusstsein längst an die Stelle von Liebe und Vertrauen getreten waren. Was immer ihn mit seinem Vater verbunden hatte, es war seit langem tot.
„Soll ich den Blutdurst von dir nehmen?“, fragte der Engel.
Kain richtete sich langsam auf. Das Blut ließ ihn taumeln. Nie zuvor hatte er einen so machtvollen Rausch erlebt. Dabei war es nicht einmal viel, das er getrunken hatte. Nicht viel, das geblieben war.
Er beobachtete Alan, der Eve vom Boden aufhalf. Die Art, wie sein Halbbruder den Arm um sie legte, ließ eine solche Wut in ihm aufflammen, dass selbst der Engel ihn kaum noch zu fesseln vermochte.
Asâêls Blick streifte ihn, pendelte zu Alan, blieb wieder an Kain hängen. „Ihr seid Brüder“, echote die Stimme des Engels in Kains Geist. „Warum verhaltet ihr euch nicht so, wie das Blut es euch lehrte?“
„Halbbrüder“, knurrte Kain. „Kein Bruder. Halbbruder.“
„Du liebst die Rache“, sagte der Engel. „Und den Hass. Wie fühlst du dich, nachdem du ihn“, er machte eine Kopfbewegung zu Mordechais Leiche, „getötet hast?“
„Ich weiß es nicht“, gab Kain zu.
„Rache ist ein leeres Versprechen.“ Die Lippen des Engels formten ein halbes Lächeln. „Zusammen mit dem Blutdurst könnte ich auch die Fesseln lösen, die dich zwingen, diese Frau zu begehren, obwohl sie dich niemals lieben wird.“
Kain zuckte zusammen. Ein Schatten flackerte über Eves Gesicht.
„Nein“, sagte er.
„Du glaubst, der Preis ist das Opfer wert?“
„Ich werde es herausfinden.“
Der Engel nickte und drehte sich zurück zu Eve. Er trat dicht an sie heran und nahm ihr Gesicht in beide Hände. Alan wich ein paar Schritte zurück vor den wuchtigen Flügeln des Wesens. Kain hatte den Eindruck, dass der Engel etwas zu ihr sagte, doch was immer es war, dieses Mal war es nur für Eve bestimmt. Dann wandte er sich ab, ging die wenigen Schritte bis zum Rand der Dachplattform, breitete die Flügel aus und stürzte sich hinunter in die Nacht.
Kain starrte dem Wesen nach, bis es eins geworden war mit dem sternlosen Himmel.
„Schade, Vater“, sagte er, „dass das nicht so gelaufen ist, wie du es dir vorgestellt hast.“ Sein Sarkasmus brannte ihm auf der Zunge. Plötzlich verspürte er keine Lust mehr, in seinem Triumph zu baden. Dieser Sieg war wie eine schlaffe Hülle, aus der alle Luft gewichen war. „Das war’s“, sagte er so laut, dass seine Stimme von den Mauern widerhallte. „Ende der Vorstellung.“ Mit zwei schnellen Schritten war er bei Eve und packte sie am Handgelenk. Der Duft ihres Blutes stieg ihm in die Nase und überlagerte den schalen Geschmack, den das Widerstreben in ihren Augen in ihm auslöste.
„Lass sie los“, zischte Alan.
Kains Blick streifte das Schwert, das sein Halbbruder locker über die Schulter gelegt hatte. Das Blut in seinen Adern tobte wie ein Vulkan. Da war ein winziger Rest rationalen Bewusstseins, der dagegen ankämpfte. Er wusste, dass es eine Wirkung des Rausches war und dass seine Handlungen nicht mehr vom Verstand getrieben waren. Doch diese Stimme war leise und erstickte unter der Woge aus Blutgier und Lust.
„Jetzt sind es nur noch wir zwei“, konstatierte er. „Du und ich.“
Eve wand sich in seinem Griff. Ihr schwacher Widerstand schürte nur die Hitze in seinen Adern. „Dem Sieger die Beute, so heißt es doch?“
„Lass sie los“, wiederholte Alan.
Das Rauschen wurde stärker. Die Mischung aus Eves Parfüm und dem Geruch ihres Blutes brachte ihn um den Verstand. In einem plötzlichen Impuls stieß er sie zurück, packte Alan mit der Gewalt eines Gottes und schleuderte ihn gegen die Wand. Klirrend stürzte das Schwert zu Boden.
Alan rang nach Atem wie ein Ertrinkender. Die Wucht des Aufpralls hatte ihm die Luft aus den Lungen getrieben. Und ihm wahrscheinlich alle Rippen gebrochen. Mordechais Blut floss nun in Kains Venen. Mordechais kostbares altes Blut, die stärkste Droge der Welt.
Alan zerrte die Pistole aus seinem Gürtel, richtete sie auf seinen Halbbruder und zog den Abzug durch. Die Kugeln rissen Blutfontänen aus Kains Leib, doch er schien es nicht wahrzunehmen. Er stürzte ihm nach, trat ihm die Waffe aus der Hand und landete schwer auf seiner Brust. Mit den Knien presste er ihm die Arme an den Boden. Er spürte, wie Kain ihm das eigene Schwert gegen die Kehle rammte. Ihm wurde schwindelig von der Gewalt des Déjàvus,
Weitere Kostenlose Bücher