Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
wund an von all den Schreien, die niemand hören wollte. Hier oben war sie ganz allein. Ihre Augen folgten Mordechais Hand und dem Nachtfalter auf seinem Handrücken.
„Sie folgen dem Licht“, erklärte er. „Sie spüren die Nähe ihres Meisters.“ Unvermittelt stand er auf. „Ich dachte, du könntest mir einen neuen Sohn gebären. Aber leider fehlt uns die Zeit dafür.“ Ein dünnes Lachen. „Ich brauche dich für einen wichtigeren Zweck.“
Er packte ihr Handgelenk und zog sie auf die Beine. Jeder Muskel in ihrem Körper schmerzte. Noch immer war sie benommen von den Nachwirkungen der Droge, mit der sie Mordechais Handlanger außer Gefecht gesetzt hatten. Sie sah nun, dass die Luft voll war von Nachtfaltern, große schwarze Schmetterlinge, die sich um ein Zentrum an der Wand der Kapelle sammelten.
Vergeblich versuchte sie, sich dem Griff der eisenharten Finger zu entwinden. Sie kämpfte bei jedem Schritt. Doch Mordechai zerrte sie mit sich, als sei sie eine Stoffpuppe. Die Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen trieb ihr schließlich die Tränen in die Augen. Er schleppte sie hinein in die Wolke aus Flügeln und feinem Staub und winzigen Krallen. Die Motten waren überall. Sie verfingen sich in ihrem Haar, streiften ihr Gesicht und die Hände. Eine tiefe, elementarePanik stieg in ihr auf. Sie wollte wieder schreien, doch wagte es nicht, aus Furcht, die Tiere könnten ihr in den Mund fliegen. Mordechais Handrücken traf sie im Gesicht und ließ ihre Lippen aufplatzen.
„Beherrsch dich“, knurrte er. Dann glätteten sich seine Züge. „Du wirst einen Engel nähren. Das wird nicht jedem zuteil.“
Er zog sie zu einem steinernen Block dicht vor der Mauer, dessen Größe und Form an einen Altar erinnerten. Eine lebensgroße Statue lag darauf, die in Eve unwillkürlich die Assoziation eines Menschenopfers heraufbeschwor. Sie erinnerte sich nicht, wann Mordechai den Dolch gezogen hatte, doch er war schnell. Er schlitzte ihr das Handgelenk auf, ein tiefer Schnitt.
Ihr Blut spritzte über den Kopf der Statue, ihre Lippen, sammelte sich in der Halsgrube und lief weiter in einem dünnen Rinnsal, bis zu dem Ring, den Mordechai auf der Gestalt platziert hatte, unterhalb einer altertümlichen Kette. In einem Winkel ihres betäubten Geistes erfasste Eve, dass das die Statue von den Fotos sein musste. Die Statue, die angeblich die Hülle eines gefallenen Engels war. Die Luft schien sich mit einem Mal zu verdichten. Oder vielleicht strömten nur noch mehr der schwarzen Motten an diesem Platz zusammen. Vielleicht lockte ihr Blut sie an. Oder vielleicht auch nicht.
Die Luft knisterte, als sei sie mit Elektrizität getränkt. Eve schauderte. Auf einer tieferen geistigen Ebene spürte sie, wie sich die Wirklichkeit verzerrte. Plötzlich schien sie durch eine Linse zu blicken, die Raum und Zeit verbog. Selbst die Nachtfalter schienen in ihrem Flügelschlag innezuhalten. Es war, als stünden sie im Atemhauch Gottes. Den Leib der Statue überlief ein Zittern. Ein Riss sprang an der Schulter auf, spaltete die Brust, verjüngte sich zu einem Netz feiner Adern. In einer Mischung aus Faszination und Grauen starrte Eve hinab auf den Stein. Ihr Blut sickerte in die Kanäle, die weiter aufklafften, immer weiter. Der Ring vibrierte, begann zu rutschen und stürzte schließlich hinab auf den Boden. Mit einem durchdringenden Ton zersprang der Opal. Er explodierte förmlich, als sei eine winzige Bombe in seinem Innern gezündet worden.
Sie hörte Mordechais Keuchen und blickte zu ihm auf, seinem starren, entrückten Blick. Von irgendwo schwang ein Schrei durch die Nacht. Metall schlug gegen Metall, ein dumpfes Echo in der Ferne. Dann barst die Statue in Stücke. Darunter wand sich lebendiges Fleisch. Entfaltete sich, wie ein Schmetterling, der aus seiner Hülle schlüpft. Ein Leib, gespenstisch durchscheinend, Blut und Staub verschmierten die Haut. Der Kopf drehte sich und enthüllte eine Masse weißer Locken, die wie Seide schimmerten. Die Lider der Kreatur flackerten, öffneten sich. Und diese Augen ...
Augen voller Tiefe, deren Blick Eve durchbohrte wie eine Klinge. Die Farben flossen ineinander und paralysierten sie. Und seine Schönheit raubte ihr den Atem. Noch immer wirbelten Hunderte von Faltern um den Altar. Der Engel richtete sich auf. Scherben glitten zu Boden und zersprangen in kleinere Stücke. Wie beiläufig entfaltete er seine Flügel. Mit einem Geräusch wie explodierende Fallschirmseide streckten sich Muskeln, Sehnen und
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