Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
sich aus eigener Kraft wieder auf. Alan sah, dass sie ein Mobiltelefon in der Hand hielt. Ihr Gesicht war noch immer eine blutleere Maske, als sie begann, den Russen zu fotografieren. Alan wusste, er sollte sie daran hindern, konnte sich aber nicht überwinden, ihr die kleine Kamera zu entreißen. Sie wirkte so fragil, so konzentriert. Und zugleich wie ein Geist, ein Schatten ihrer selbst. Es spielte keine Rolle. Er würde sich später um die Photos kümmern.
Ein kleiner Gegenstand glitt ihr aus der Hand und fiel klirrend zu Boden. Alan hob ihn auf. Es war ein außergewöhnlich geformter Ring mit einem weißen Stein. Ein schwerer Ring mit großem Durchmesser, gemacht für eine Männerhand. Sein Blick glitt zurück zu Andrejs Leiche und dann wieder zu Eve.
Sie streckte die Hand aus. „Gib ihn mir.“ Ihre Stimme klirrte.
„Hast du ihm das abgenommen?“
„Bitte“, fügte sie hinzu.
Alan fuhr mit dem Daumen über den Stein. Er fühlte sich warm an und seltsam rau. Eine Art Netz überspannte das Juwel. Er zögerte, doch kapitulierte dann vor dem gehetzten Ausdruck in Eves Blick und legte ihr den Ring in die Hand. Seine Finger berührten für eine Sekunde ihre Handfläche.
„Ich will nach Hause“, sagte sie leise.
Sie musste kurz vor dem Zusammenbruch stehen. Der Schock wirkte nach und sie hatte eine Menge Blut verloren. Ein Wunder, dass sie überhaupt noch aufrecht stand. Sie sah verloren aus, blutbesudelt in ihrem zerrissenen Kleidchen. Eine Welle der Zärtlichkeit spülte über ihn hinweg. Eine unerwartete Emotion.
„Wo wohnen Sie?“
„Dort drüben.“ Sie machte eine Kopfbewegung zur Straße hin und zuckte sofort zusammen. Ihre Hand fuhr hoch und bedeckte die Wunde. „Verdammt, das tut weh.“
In ihrem Ton schwang die alte Eve durch, und Alan war erleichtert.
„Das 717?“
Sie nickte.
Alan schürzte die Lippen. „Nett.“
„Ist nicht so teuer, wie es aussieht.“ Eve verzog die Mundwinkel zu einem Lächeln. Sie taumelte, umklammerte seinen Arm und brach zusammen.
8
E ves erste Wahrnehmung war der Geruch von Terpentin.
Sie schlug die Augen auf und starrte ins Dunkel. Ihre Hände tasteten über eine Matratze. Sie drehte den Kopf und sah ein Fenster. Lichter auf der anderen Seite. Alles war fremd, aber dennoch vertraut. Sie hatte das schon einmal gesehen. Wie lange war sie weg gewesen?
Sie erinnerte sich an den Kampf mit Andrej, an Alan, der den Russen getötet hatte. Ihm die Kehle durchgeschnitten und ihn verbluten lassen. Ihr wurde kalt, als das Bild vor ihrem inneren Auge auftauchte, so klar, dass sie das Blut fast riechen konnte.
Ein Geräusch durchbrach ihre Lethargie, ein Keuchen. Mit einem Ruck richtete sie sich auf. Die Decke rutschte von ihrem Körper. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie bis auf ihren Slip nackt war. Die Vorstellung, Alan könnte sie entkleidet haben, trieb Hitze in ihr Gesicht. Sie tastete nach der Wunde an ihrem Hals. Ihre Finger wanderten über glatte Haut, suchten nach dem Schnitt, fanden aber nicht die geringste Verletzung.
Verwirrung verdrängte den Anflug von Scham. Sie konnte sich das alles nicht eingebildet haben, oder?
Erneut hörte sie das Geräusch. Es klang wie gepresste Atemzüge. Sie machte zwei vorsichtige Schritte aus dem Bett, ertastete die Wand. Mehr eine Schiebetür. Sie legte ihre Hände flach dagegen und schob sie zur Seite. Auf der Türschwelle erstarrte sie. Ein Streifen Licht fiel durch die Fenster und tauchte den Raum in dämmrige Schatten.
Alan stand gegen die Wand gestützt, barfuß, mit nacktem Oberkörper. Er schien sie nicht zu bemerken. Schwarze Krusten wanden sich seine Seite hinauf, wahrscheinlich getrocknetes Blut. Auf seiner Haut glänzte Schweiß. Er atmete schwer und zitterte am ganzen Körper. Jäh zuckte er zusammen, wie unter einem elektrischen Schlag. Seine Muskeln verkrampften sich, er sank in die Knie. Eine Zeitlang hockte er am Boden, keuchend, die Hände zu Fäusten geballt. Schließlich schien der Schmerz von ihm abzufallen. Er streckte sich aus und blieb reglos liegen.
Panik kroch in Eves Kehle hinauf. Sie starrte auf seinen Rücken, suchte nach einem Zeichen, dass er noch atmete. „Bitte“, flüsterte sie. „Bitte.“
Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und schlich näher. Sie ging in die Hocke und streckte eine Hand nach ihm aus, berührte leicht seine Schulter.
Wie ein Dämon rollte er herum, packte ihren Arm, seine Finger wie Klauen. Seine Augen standen weit offen. Wut loderte darin, ein wahnsinniges
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