Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
noch hatte bewegen können. Wie war es ihm gelungen, sie beide hier hoch zu schleppen?
Eve schob ihre Beine über den Bettrand und stand auf. Sie verharrte einen Moment, um ihr Gleichgewicht zu finden. Dann trat sie beherzt ins Dunkel.
Betonaufbauten und rostige Luftauslässe überzogen das Dach des Figueroa Hotels. Kain hockte im Schatten eines Stahlgerüsts mit Neonbuchstaben und starrte hinunter auf die Stadt. Wie sie bebte und pulsierte, mit ihren leuchtenden Adern. Fast wie ein lebendiges Wesen. Er fragte sich, ob Metropolen ein Bewusstsein besaßen.
Seine Muskeln zitterten noch immer von der Wucht der Transformation, sein Körper fühlte sich wund an. Er fröstelte im kalten Nachtwind.
Ganz schwach am Rande seiner Wahrnehmung konnte er die Aura des fremden Schattenläufers spüren. Der Mann musste sich in der Nähe aufhalten, hatte wahrscheinlich einen Schlupfwinkel in einem der Hochhäuser. Kain senkte den Blick. Er hatte sich überschätzt. Vielleicht, weil das Töten so leicht geworden war. Weil er zugelassen hatte, dass Lust und Arroganz seine Handlungen diktierten. Das hätte ihn den Kopf kosten können. Er hätte die Frau sofort töten sollen, dann wäre es gar nicht erst zum Zusammenstoß mit dem anderen Schattenläufer gekommen. Nun war Eve Hess aller Wahrscheinlichkeit nach noch am Leben, und sie wusste, dass er hinter dem Ring her war. Er stand unter Zeitdruck, viel stärker als zuvor. Er musste rasch handeln, wenn er den Auftrag nicht verlieren wollte.
Sein Blick wanderte zur Fassade des 717, zu den dunklen Fenstern von Eves Apartment. Ein seltsamer Widerwille flammte in ihm auf. Plötzlich wurde ihm klar, dass die Vorstellung, sie zu töten, heftige Skrupel in ihm auslöste. Das verstörte ihn. Er war es nicht gewohnt, Gefühle für seine Opfer zu entwickeln, gleichgültig ob Abneigung oder Sympathie. Er zog es vor, sie distanziert zu betrachten, ohne Persönlichkeit. Mit Eve Hess hatte er einen Fehler gemacht. Er hatte einem Trieb nachgegeben, einem flüchtigen Rausch. Und hatte darüber die Distanz verloren.
Kain richtete sich auf und dehnte sein Bein, das sich immer noch steif anfühlte und wahrscheinlich Tage brauchen würde, um sich vollständig zu erholen. Knochen heilten langsamer als Muskeln. Langsam wanderte er zurück zur Stahltür, die zum Treppenhaus führte.
Er musste sich um den Ring kümmern, bevor Eve ihn in Sicherheit bringen konnte.
Eve fand Alan ausgestreckt auf den Steinen liegen, die Kleider mit Blut durchtränkt. Er hatte den Kopf unter den Armen vergraben und atmete so flach, dass sie nicht sicher war, ob er nicht im Sterben lag.
„Alan? Kannst du mich hören?“ Sie wagte nicht, ihn zu berühren, aus Angst, er würde hochschrecken und sie angreifen, wie zwei Nächte zuvor. „Alan?“
Er regte sich. Eve war so erleichtert, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. „Soll ich die Ambulanz rufen?“
„Nein“, flüsterte er.
Mit Verzögerung begriff sie, wie surreal dieser Dialog war. So surreal wie die Tatsache, dass er überhaupt noch am Leben war. Er stützte sich auf die Arme und richtete sich halb auf. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, sah er sie an.
Eve starrte auf seine Kehle, die Krusten geronnenen Blutes. Der klaffende Schnitt hatte sich geschlossen.
„Du brauchst keine Ambulanz“, stellte sie fest. Ihr war selbst nicht klar, wie sie es schaffte, so ruhig zu bleiben. „Deine Wunden sind fort, nicht wahr?“
Sehr langsam hob er einen Arm, winkelte ihn an und streckte ihn wieder. Eve erhaschte einen Blick auf hellrotes Narbengewebe.
„Nicht ganz.“ Er verzog einen Mundwinkel.
Sie nickte. „Du verstehst, dass ich dir dieses Mal nicht abkaufe, dass ich mir alles nur eingebildet habe?“
Alan stieß geräuschvoll den Atem aus. „Du wirst meine Erklärung nicht glauben.“
„Versuch es. Ich habe viel Phantasie.“
Er seufzte. „Außerdem ist es eines dieser Geheimnisse, bei denen ich dich töten müsste, nachdem ich dich eingeweiht habe.“
Eve hob eine Augenbraue. „Dafür ist es ein bisschen spät.“
Alan stemmte sich auf die Füße. „Ich könnte damit anfangen, dass ich vierhundert Jahre alt bin.“ Seine Stimme klang ausdruckslos. „Vierhundertundzwei, um genau zu sein. Ich wurde 1610 in Marseille geboren.“
Sie wusste nicht, was sie erwidern sollte. Er machte sich offenbar über sie lustig. Aber da war kein Lächeln, keine versteckte Ironie. Er erwiderte nur ihren Blick, sein Gesicht eine bleiche Maske.
Andererseits, warum
Weitere Kostenlose Bücher