Engelsbrut - Gunschera, A: Engelsbrut
aufbrach. Dahinter fanden sie einen Korridor mit Doppeltüren, hinter denen sich die Betriebsräume des Gebäudes befanden. Eves Atem flatterte an seinem Arm, flach und unstet wie die Flügel einer verletzten Motte. Als sie den Fahrstuhl betraten, sackte sie gegen ihn. Alan packte sie bei den Schultern und schüttelte sie. Ihre Lider öffneten sich einen Spalt.
„So müde“, wisperte sie. „Ich bin so müde.“
Kälte kroch in Alans Glieder. Er fürchtete plötzlich, dass es nicht genug war. Dass es nicht ausreichen würde, sie zu heilen. Er konnte ihren Puls kaum noch spüren. Rasch zog er sie aus dem Aufzug heraus und den Korridor hinunter. Blut tropfte von seinen Fingern auf den Filzteppich, der es aufsog.
Das letzte Stück trug er sie. Gefährliche Schwäche zerrte an ihm und ließ ihn bei jedem Schritt taumeln.
In seinem Apartment angekommen, legte er sie auf sein Bett, wie schon einmal vor zwei Nächten. Die Verletzung an ihrem Hals war schwarz von Blut, ein klaffender Riss im Gewebe. Alan tränkte ein Handtuch mit Wasser und säuberte die Wunde, so gut es ging.
Dann fügte er sich mit dem Dolch des Killers einen tiefen Schnitt zu, vom Handgelenk bis zur Armbeuge. Er ließ mehr von seinem Blut in ihre Kehle fließen, während er darum kämpfte, bei Bewusstsein zu bleiben. Vor seinen Augen tanzten Schlieren. Er umklammerte den Bettpfosten so fest, dass seine Knöchel schmerzten, und starrte hinab auf Eves bleiches Gesicht.
Ihr Atem beruhigte sich endlich, und Alan ließ mehr Blut auf ihre Lippen tropfen. Sie reagierte nicht. Doch sie atmete weiter. Während er ihren Atemzügen lauschte, spürte er, wie sein eigener Organismus erstarrte, der Moment der Stille, bevor die Heilung einsetzen und jede Faser zerschmettern würde, um sie danach neu zusammenzusetzen.
Er stürzte aus dem Zimmer und zog die Tür hinter sich zu. Seine Hand rutschte von der Tischkante ab, bevor der Schmerz ihn überflutete und sein Inneres in Stücke zu reißen begann.
Eve hörte einen abgerissenen Schrei, doch ihr Geist war zu träge, um darauf zu reagieren. Ihre Sinne funktionierten nur noch gedämpft, wie eingehüllt in eine schwere Decke. Ihr Körper fühlte sich kalt an. Sie konnte sich nicht bewegen, aber verspürte kaum Schmerzen. Als endlich Stille einsetzte, drangen andere Geräusche zu ihr vor. Verkehrsrauschen von der Straße, Feuersirenen. Ein Hund bellte irgendwo.
Sie wollte sich erinnern und stolperte über Bilder, die keinen Sinn ergaben. Was war geschehen, seit der Russe versucht hatte, sie zu töten? So wie sie hier lag, fühlte es sich an wie ein Déja-vu, eine schreckliche Verschiebung im Zeitgefüge. Sie sah das Gesicht dieses Mannes vor sich, der nicht Andrej war, sondern ein anderer tödlicherer Killer, der sie nach dem Ring gefragt hatte, bevor er ihre Kehle aufzureißen begann. Wie war es möglich, dass sich ein Dämon hinter dem Antlitz eines Engels verbarg?
Der Stoff unter ihrer Wange fühlte sich klamm an. Endlich gelang es ihr, den Kopf zu drehen. Mit Mühe hob sie eine Hand und untersuchte ihr Gesicht. Ihre Fingerspitzen tauchten in klebrige Feuchtigkeit, Schweiß oder Blut, sie wusste es nicht. Sie ertastete eine wulstige Narbe und folgte ihr bis zum Schulterknochen.
Mehr Bilder drängten hoch. Sie erinnerte sich, dass sie ihre Waffe auf Erzengel Gabriel abgefeuert hatte. Welch ein Glück, dass sie ihrer Eingebung gefolgt war, die Pistole am Körper zu tragen, anstatt in ihrer Tasche. Dass sie überhaupt entschieden hatte, das Ding mitzunehmen.
Schließlich fand sie die Kraft, sich aufzusetzen.
Alan hatte sein Blut in ihre Wunde laufen lassen. Nachträglich traf sie der Schock, als sie auf diese spezielle Erinnerung prallte. Sie saß still, während sie zu ergründen versuchte, ob sie sich diesen Teil der Geschehnisse eingebildet hatte oder nicht. Die Verletzung war verschwunden, wenn auch nicht spurlos, wie beim letzten Mal. Die Narbe fühlte sich knotig an, wie von einer Brandwunde.
Eve leckte sich über die Lippen. Sie schmeckte ein süßlich metallisches Aroma. Blut. Plötzlich wusste sie, dass das Alans Blut war, nicht ihr eigenes. Oh Gott. Vielleicht verlor sie den Verstand.
Ihr fiel auf, wie still es um sie geworden war. Panik stieg in ihr hoch. Sie hatte gesehen, wie schwer Alan verletzt worden war. Sie hatte gesehen, dass zwei Kugeln ihn getroffen hatten, und dass ein langer Schnitt in seiner Kehle klaffte. Es überstieg ihre Vorstellung, wie er sich mit diesen Verletzungen überhaupt
Weitere Kostenlose Bücher