Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
früheren Leben zu besuchen, hatte sie sich eins niemals vorgestellt: Ihren eigenen Tod mitanzusehen. Die Realität war schrecklicher, als ihre dunkelsten Albträume es jemals hätten werden können. Sie stand in dem kalten Schnee, von dem Geschehen gelähmt, und ihrem Körper war jede Fähigkeit genommen, sich zu bewegen.
Daniil taumelte von der verkohlten Masse im Schnee zurück und begann zu weinen. Die Tränen, die ihm über die Wangen strömten, zogen saubere Bahnen durch den schwarzen Ruß, der von ihr noch übrig geblieben war. Sein Gesicht verzerrte sich. Seine Hände zitterten. Sie erschienen Luce so nackt und groß und leer, als gehörten sie – obwohl der Gedanke in ihr eine seltsame Eifersucht weckte – um Luschkas Taille, in ihr Haar, auf ihre Wangen. Was um alles in der Welt tat man mit seinen Händen, wenn das Einzige, was sie halten wollten, plötzlich auf grausame Weise verschwunden war? Ein Mädchen, ein Leben – ausgelöscht.
Der Schmerz auf seinem Gesicht drang Luce direkt ins Herz, setzte sich fest und gab ihr den Rest. Der Anblick seiner Qual vergrößerte ihren eigenen Schmerz.
So also fühlte er sich in jedem Leben.
Bei jedem Tod.
Wieder und wieder und wieder.
Luce hatte sich geirrt. Daniel war nicht selbstsüchtig. Er war keineswegs teilnahmslos. Er nahm vielmehr zu großen Anteil, es zerstörte ihn. Sie hasste es trotzdem, aber plötzlich verstand sie seine Verbitterung, seine Zurückhaltung in allen Dingen. Miles mochte sie durchaus lieben, aber seine Liebe war nichts verglichen mit Daniels Liebe.
So konnte sie niemals sein.
»Daniel!«, rief sie, verließ die Dunkelheit und rannte auf ihn zu.
Sie wollte all die Küsse und Umarmungen erwidern, die er gerade ihrem früheren Ich geschenkt hatte. Sie wusste, dass es falsch war, dass alles falsch war.
Daniels Augen weiteten sich. Ein Ausdruck abgrundtiefen Entsetzens glitt über seine Züge.
»Was hat das zu bedeuten?«, fragte er langsam. Anklagend. Als habe er nicht soeben seine Luschka sterben lassen. Als sei Luce’ Erscheinen hier schlimmer als der Anblick der sterbenden Luschka. Er hob die Hand, die von Asche geschwärzt war, und zeigte auf sie. »Was geht hier vor?«
Es war eine Qual, ertragen zu müssen, dass er sie so ansah. Sie blieb wie angewurzelt stehen und blinzelte eine Träne weg.
»Antworte ihm«, sagte jemand, eine Stimme aus der Dunkelheit. »Wie bist du hierher gekommen?«
Luce hätte die hochmütige Stimme überall erkannt. Sie brauchte nicht zu sehen, wie Cam aus der Tür des Bunkers trat.
Mit einem leisen Knacken und einem Sausen, als würde eine riesige Flagge entfaltet, streckte er seine großen Flügel aus. Sie ragten hinter ihm auf und ließen ihn noch prachtvoller und beängstigender wirken als gewöhnlich. Luce konnte ihre Augen nicht von ihm abwenden. Die Flügel warfen einen goldenen Schein auf die dunkle Straße.
Luce blinzelte und versuchte zu verstehen, was sich vor ihren Augen abspielte. Es waren noch mehr von ihnen da, noch mehr Gestalten, die in der Dunkelheit kauerten. Jetzt traten sie alle vor.
Gabbe. Roland. Molly. Arriane.
Sie waren alle da. Alle mit straff nach vorn gezogenen Flügeln. Ein schimmerndes Meer aus Gold und Silber, blendend hell auf der dunklen Straße. Sie wirkten angespannt. Ihre Flügelspitzen zitterten, als seien sie bereit, sich in den Kampf zu stürzen.
Ausnahmsweise machten Luce weder die Pracht ihrer Flügel noch die Strenge ihrer Blicke Angst. Sie war angewidert.
»Seht ihr alle jedes Mal zu?«, fragte sie.
»Luschka«, sagte Gabbe mit ausdrucksloser Stimme. »Sag uns einfach, was los ist.«
Dann war Daniil da und packte sie an den Schultern. Schüttelte sie.
»Luschka!«
»Ich bin nicht Luschka!«, rief Luce, riss sich von ihm los und wich ein halbes Dutzend Schritte zurück.
Sie war entsetzt. Wie konnten sie mit sich leben? Wie konnten sie alle einfach dasitzen und zusehen, wie sie starb?
Es war alles zu viel. Sie war nicht bereit, dies zu sehen.
»Warum schaust du mich so an?«, fragte Daniil.
»Sie ist nicht diejenige, für die du sie hältst, Daniil«, erwiderte Gabbe. »Luschka ist tot. Dies ist … dies ist …«
»Was ist sie?«, fragte Daniel. »Wie kann sie hier stehen? Wenn …«
»Sieh dir ihre Kleider an. Sie ist eindeutig …«
»Halt den Mund, Cam, sie ist es vielleicht nicht«, unterbrach Arriane ihn, aber auch sie schien Angst zu haben, dass Luce vielleicht das war, was Cam von ihr hatte behaupten wollen. Ein Kreischen zerriss die
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