Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
gehen.« Baba zog die Brauen zusammen. »Denkt ihr, die Keller werden ewig aufgehalten?«
Über ihnen am Himmel brummten die Propeller eines Kampfflugzeugs. Es flog so tief, dass Luce das schwarze Hakenkreuz unter den Tragflächen deutlich erkennen konnte. Ein Schauder durchlief sie. Dann erschütterte eine weitere Explosion die Stadt und die Luft wurde beißend von dunklem Rauch. Die Bombe musste irgendwo ganz in der Nähe eingeschlagen sein. Zwei weitere heftige Explosionen folgten und ließen den Boden unter ihren Füßen erbeben.
Auf der Straße herrschte Chaos. Menschen, die an den Gräben gearbeitet hatten, liefen auseinander und verschwanden in einem Dutzend schmaler Straßen. Einige eilten die Treppen der Metrostation an der Ecke hinunter, um das Ende der Bombardierung unter der Erde abzuwarten; andere verschwanden in dunklen Hauseingängen.
Einen Häuserblock entfernt erhaschte Luce einen Blick auf eine rennende Gestalt. Ein Mädchen ungefähr in ihrem Alter mit rotem Hut und langem Wollmantel. Sie drehte gerade eine Sekunde lang den Kopf, bevor sie weiterlief. Aber es war lange genug, um Luce Klarheit zu verschaffen.
Das war sie.
Luschka.
Sie machte sich von Babas Arm frei. »Es tut mir leid. Ich muss gehen.«
Luce holte tief Luft und eilte die Straße hinunter, direkt hinein in den wabernden Rauch des letzten Bombentreffers.
»Bist du verrückt?«, brüllte Kristina. Aber sie folgten ihr nicht. In diesem Fall hätten sie selbst verrückt sein müssen.
Mit vor Kälte tauben Füßen versuchte Luce durch den wadenhohen Schnee zu laufen. Als sie die Ecke erreichte, wo sie ihr vergangenes Ich mit der roten Mütze hatte vorbeiflitzen sehen, verlangsamte sie ihre Schritte. Dann schnappte sie nach Luft.
Ein großes Gebäude, das sich über den halben Häuserblock direkt vor ihr erstreckte, war eingestürzt. Weißer Stein war mit Streifen schwarzer Asche überzogen. Tief im Einschlagkrater der Bombe loderte ein Feuer.
Die Explosion hatte haufenweise Trümmer aus dem Inneren des Gebäudes geschleudert. Im Schnee waren rote Flecken. Luce prallte zurück, bis sie begriff, dass es kein Blut war, sondern Fetzen roter Seide. In dem Bau musste sich eine Schneiderei befunden haben. Mehrere versengte Kleiderständer lagen auf der Straße und in einem Graben brannte eine Schneiderpuppe. Luce musste sich den Mund mit dem Schal ihrer Großmutter bedecken, um von dem Rauch nicht zu würgen. Wo immer sie hintrat, lagen Glassplitter und Steine im Schnee.
Sie sollte umkehren und nach der Großmutter und der Schwester suchen, die ihr helfen würden, eine Zuflucht zu finden. Aber sie konnte nicht. Sie musste Luschka ausfindig machen. Sie war noch nie zuvor einem früheren Ich so nahe gewesen. Luschka würde ihr vielleicht helfen können zu verstehen, warum in Luce’ eigenem Leben die Dinge sich anders entwickelt hatten. Warum Cam mit einem Sternenpfeil auf ihr Trugbild geschossen hatte – in der Annahme, er schieße auf sie – und warum er zu Daniel gesagt hatte: »Es war besser so für sie.« Besser als was?
Sie drehte sich langsam um und versuchte, das Aufblitzen der roten Mütze in der Nacht auszumachen.
Da.
Das Mädchen lief den Hügel hinab zum Fluss. Luce begann ebenfalls zu rennen.
Sie liefen genau im gleichen Tempo. Als Luce beim Krachen einer Explosion den Kopf einzog, tat Luschka das Gleiche – in einem seltsamen Echo von Luce’ Bewegung. Und als sie das Flussufer erreichten und die Stadt übersehen konnten, erstarrte Luschka in genau der gleichen Haltung wie Luce selbst.
Fünfzig Meter vor Luce begann ihr Ebenbild zu schluchzen.
Große Teile Moskaus brannten. So viele Häuser waren dem Erdboden gleichgemacht worden. Luce versuchte, sich die anderen Leben vorzustellen, die heute Nacht überall in der Stadt zerstört worden waren, aber sie fühlten sich fern und unerreichbar an, wie etwas, das sie nur aus einem Geschichtsbuch kannte.
Das Mädchen hatte sich wieder in Bewegung gesetzt. Es rannte so schnell, dass Luce es nicht einholen konnte. Sie schlugen große Bögen um die riesigen Krater, die von den Bomben in die Straße gesprengt worden waren. Sie rannten an brennenden Gebäuden vorbei und hörten den schrecklichen Lärm, den ein Feuer macht, wenn es neue Beute findet. Sie liefen an zerschmetterten, umgekippten Militärlastwagen vorbei, aus denen geschwärzte Arme hingen.
Dann bog Luschka nach links in eine Straße ein, sodass Luce sie nicht mehr sehen konnte.
Adrenalin schoss ihr ins Blut.
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