Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
Luce lief weiter und ihre Füße stampften härter und schneller über die verschneite Straße. Menschen laufen nur dann so schnell, wenn sie verzweifelt sind. Wenn ihnen etwas mehr bedeutet als ihr eigenes Leben.
Luschka konnte nur auf eines zurennen.
»Luschka …«
Seine Stimme.
Wo war er? Einen Moment lang vergaß Luce ihr früheres Ich, vergaß das russische Mädchen, dessen Leben jetzt jeden Moment enden konnte, vergaß, dass dieser Daniel nicht ihr Daniel war, aber andererseits …
Natürlich war er das.
Er starb niemals. Er war immer da gewesen. Er hatte immer ihr gehört und sie immer ihm. Sie wollte nichts anderes, als seine Arme finden und sich in ihnen vergraben. Er würde wissen, was sie tun sollte; er würde ihr helfen können. Warum hatte sie in der Vergangenheit an ihm gezweifelt?
Sie rannte auf seine Stimme zu. Aber sie konnte Daniel nirgendwo sehen. Luschka ebenso wenig. Einen Häuserblock vom Fluss entfernt blieb Luce an einer verlassenen Kreuzung stehen.
Jeder Atemzug quälte ihre halb erfrorenen Lungen. Ein kalter, pulsierender Schmerz bohrte sich tief in ihre Ohren, und die eisigen Nadelstiche, die sie in ihren Füßen spürte, machten das Stillstehen unerträglich.
Aber in welche Richtung sollte sie sich wenden?
Vor ihr lag ein riesiges, verlassenes Grundstück, das von Schutt bedeckt und durch Gerüste und einen Eisenzaun von der Straße abgesperrt war. Aber selbst in der Dunkelheit konnte Luce erkennen, dass hier schon vor einiger Zeit etwas abgerissen und nicht erst bei einem Luftangriff von einer Bombe zerstört worden war.
Es sah nach nichts Besonderem aus, nur eine hässliche, verlassene Grube. Sie wusste nicht, warum sie noch immer davorstand. Warum sie aufgehört hatte, Daniels Stimme nachzulaufen …
Bis sie den Zaun berührte, blinzelte und etwas Leuchtendes aufblitzen sah.
Eine Kirche. Eine majestätische weiße Kirche, die die riesige Baulücke füllte. Ein gewaltiger, dreiteiliger, marmorner Torbogen in der Vorderfront. Fünf goldene Türme, die sich hoch in den Himmel reckten. Und im Innern: Reihen gewachster Holzbänke, so weit das Auge reichte. Ein Altar oben auf einer weißen Treppenflucht. Und all die Mauern und die hohen, gewölbten Decken bedeckt mit zauberhaft kunstvollen Fresken. Und überall Engel.
Die Kirche von Christus dem Erlöser.
Woher wusste Luce das? Warum sollte sie mit jeder Faser ihres Wesens spüren, dass dieses Nichts einst eine beeindruckende weiße Kirche gewesen war?
Weil sie noch Sekunden zuvor dort gewesen war. Sie sah die Handabdrücke einer anderen Person in der Asche auf dem Metall: Luschka war ebenfalls hier stehen geblieben, hatte die Ruinen der Kirche betrachtet und etwas gefühlt.
Luce umfasste das Geländer, blinzelte abermals und sah sich selbst – oder Luschka – als kleines Mädchen.
Sie saß in einem weißen Spitzenkleid auf einer der Bänke. Eine Orgel spielte, während die Besucher des Gottesdienstes hereinströmten. Der gut aussehende Mann zu ihrer Linken musste ihr Vater sein und die Frau neben ihm ihre Mutter. Da war auch die Großmutter, die Luce gerade kennengelernt hatte, und Kristina. Sie sahen beide jünger aus und besser genährt. Luce erinnerte sich, dass ihre Großmutter gesagt hatte, dass ihre Eltern tot waren. Aber hier sahen sie so lebendig aus. Sie schienen alle zu kennen und begrüßten jede Familie, die an ihrer Bank vorbeikam. Luce betrachtete ihr früheres Ich, das seinem Vater zusah, wie er einem gut aussehenden, jungen blonden Mann die Hand schüttelte. Der junge Mann beugte sich über die Bank und lächelte sie an. Er hatte wunderschöne violette Augen.
Luce blinzelte abermals und die Vision verschwand. Das Grundstück war wieder wenig mehr als Schutt. Sie fror. Und sie war allein. Eine weitere Bombe schlug auf der anderen Seite des Flusses ein und die Druckwelle der Explosion zwang Luce auf die Knie. Sie bedeckte das Gesicht mit den Händen …
Bis sie jemanden leise weinen hörte. Sie hob den Kopf und spähte in die Dunkelheit der Ruinen, bis sie ihn entdeckte.
»Daniel«, flüsterte sie. Er sah genauso aus wie immer. Er verströmte beinahe Licht, selbst in der eisigen Dunkelheit. Das blonde Haar, durch das sie immer die Finger ziehen wollte, die violettgrauen Augen, die eigens dazu geschaffen zu sein schienen, in ihre zu blicken. Dieses wunderbare Gesicht, die hohen Wangenknochen, diese Lippen. Ihr Herz hämmerte, und sie musste sich an dem Eisenzaun festklammern, um sich daran zu hindern, zu
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