Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
gegangen, und sie sind gestorben. Ich habe niemanden mehr. Bitte, gehen Sie nicht.«
Er konnte es nicht ertragen. Aber wenn er sie jemals wiederfinden wollte, musste er jetzt gehen. Das war seine einzige Chance.
»Wenn der Krieg vorüber ist, werden wir uns wiedersehen. Sie werden einen Sommer in Florenz verbringen, und wenn Sie bereit sind, werden Sie mich im Boboli-Garten finden …«
»Ich werde was tun?«
»Direkt hinter dem Palazzo Pitti, am Ende der Spinnengasse, wo die Hortensien blühen. Suchen Sie nach mir.«
»Sie müssen fiebern. Das ist doch verrückt!«
Er nickte. Er wusste, dass es verrückt war. Es widerstrebte ihm zutiefst, dass es keine andere Alternative gab, als dieses schöne süße Mädchen auf einen so hässlichen Kurs zu bringen. Sie musste zu den Gärten gehen, gerade so, wie Daniel jetzt hinter Lucinda hergehen musste.
»Ich werde dort sein und auf Sie warten. Vertrauen Sie darauf.«
Als er sie auf die Stirn küsste, erzitterten ihre Schultern unter einem leichten Schluchzen. Gegen jeden Instinkt wandte Daniel sich ab und eilte davon, um einen Verkünder zu finden, der ihn weiter zurück in der Zeit brachte.
Fünf
Auf Umwegen zum Ziel
H ELSTON , E NGLAND , 18. J UNI 1854
Luce schoss in den Verkünder hinein wie ein außer Kontrolle geratener Wagen.
Sie prallte gegen seine schattenhaften Wände und fühlte sich dabei, als würde sie eine Abfallrutsche hinuntergeworfen. Sie wusste nicht, wohin sie ging oder was sie vorfinden würde, sobald sie eintraf, nur dass dieser Verkünder schmaler und weniger biegsam schien als der vorangegangene; außerdem war er erfüllt von einem nassen, peitschenden Wind, der sie immer tiefer in den dunklen Tunnel trieb.
Ihre Kehle war trocken und ihr Körper erschöpft, weil sie in dem Krankenhaus kaum geschlafen hatte. Mit jeder Biegung fühlte sie sich verlorener und unsicherer.
Was tat sie in diesem Verkünder?
Sie schloss die Augen und versuchte, ihren Geist mit Gedanken an Daniel zu füllen: An den starken Griff seiner Hände, die brennende Intensität seiner Augen, die Art, wie sein ganzes Gesicht sich veränderte, wenn sie einen Raum betrat. An den sanften Trost, in seine Flügel gehüllt zu sein und hoch über dem Boden zu schweben, weit fort vom Rest der Welt und ihren Sorgen.
Wie töricht es gewesen war wegzulaufen! In dieser Nacht in ihrem Garten war es ihr richtig erschienen, in den Verkünder zu treten – sie hatte das Gefühl gehabt, es sei das Einzige, was sie tun konnte. Aber warum? Warum hatte sie es getan? Welcher Gedanke hatte ihr dies wie eine kluge Entscheidung erscheinen lassen? Und jetzt war sie weit fort von Daniel, von allen, die ihr etwas bedeuteten, überhaupt weit entfernt von allem. Und es war allein ihre Schuld.
»Du bist ein Idiot!«, rief sie in die Dunkelheit.
»He, he«, erscholl eine Stimme. Sie war heiser und schroff und schien ihre Quelle direkt an Luce’ Seite zu haben. »Keine Beleidigungen bitte!«
Luce erstarrte. In der absoluten Dunkelheit des Verkünders konnte niemand sein. Richtig? Sie musste es sich eingebildet haben. Sie drängte weiter, schneller.
»Etwas langsamer, ja?« Sie schnappte nach Luft. Wer immer es war, er klang nicht verzerrt oder fern, wie jemand, der durch den Schatten sprach. Nein, jemand war hier drin. Bei ihr.
»Hallo?«, rief sie und schluckte hörbar.
Keine Antwort.
Der peitschende Wind im Verkünder wurde lauter und heulte in ihren Ohren. Sie stolperte in der Dunkelheit vorwärts, und ihre Angst wuchs immer weiter, bis das Getöse der Luft, die an ihr vorbeistrich, erstarb und an seine Stelle ein anderes Geräusch trat – eine Art Rauschen. Wie von Wellen, die sich in der Ferne an einer Küste brachen.
Nein, das Geräusch war zu stetig, als dass es von Wellen herrühren konnte, dachte Luce. Ein Wasserfall.
»Ich sagte, langsam. «
Luce zuckte zusammen. Da war sie wieder, die Stimme. Dicht an ihrem Ohr – und sie hielt mit ihr Schritt, während sie rannte. Diesmal klang die Stimme verärgert.
»Du wirst überhaupt nichts erfahren, wenn du weiter so herumjagst.«
»Wer sind Sie? Was wollen Sie?«, rief sie. »Uff!«
Ihre Wange prallte gegen etwas Kaltes und Hartes. Das Rauschen des Wasserfalls füllte ihre Ohren und war so nah, dass sie Gischttröpfchen auf der Haut spüren konnte. »Wo bin ich?«
»Du bist hier. Du bist … auf Pause. Schon mal davon gehört, dass man innehalten kann, um an den Päonien zu riechen?«
»Sie meinen Rosen.« Luce tastete sich durch
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