Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
kreisförmigen Bewegungen abgewischt, bis die trüben schwarzen Schatten abgeblättert waren. Erst jetzt wurde Luce klar, dass er einfach eine Störung beseitigt hatte.
Diesmal gab es kein Hindernis. Vielleicht weil sie allein reiste, durch einen Verkünder, den sie mit ihrer eigenen Willenskraft heraufbeschworen hatte. Und sie konnte ihn ohne Weiteres verlassen. Beinahe zu leicht. Der Schleier aus Schwärze teilte sich einfach.
Ein eisiger Windstoß ließ sie zusammenfahren. Sie presste vor Kälte die Knie zusammen, ihre Brust wurde klamm und ihr tränten die Augen von der scharfen Bö.
Wo war sie?
Luce bedauerte ihren panischen Sprung durch die Zeit bereits. Ja, sie hatte entkommen müssen, und ja, sie wollte ihre Vergangenheit zurückverfolgen, um ihre früheren Ichs vor all dem Schmerz zu bewahren, um zu verstehen, was für eine Art Liebe sie bei all diesen anderen Malen mit Daniel verbunden hatte. Um sie zu fühlen, statt nur davon erzählt zu bekommen. Um zu verstehen – und dann in Ordnung zu bringen –, was immer das für ein Fluch war, mit dem sie und Daniel belegt worden waren.
Aber nicht so. Verfroren, allein und vollkommen unvorbereitet auf den Ort und den Zeitpunkt, die sie jetzt zufällig erreicht hatte.
Vor sich sah sie eine verschneite Straße mit weißen Häusern und darüber einen stahlgrauen Himmel. In der Ferne rumpelte oder grollte etwas. Aber sie wollte nicht darüber nachdenken, was das alles zu bedeuten hatte.
»Warte«, flüsterte sie dem Verkünder zu.
Der vage Schatten waberte etwa einen halben Meter vor ihren Fingerspitzen. Sie versuchte, ihn zu fassen, aber der Verkünder wich ihr aus und entfernte sich weiter. Sie sprang ihm nach und erwischte ein winziges, feuchtes Stückchen …
Aber im nächsten Augenblick löste sich auch das in weiche schwarze Partikel auf, die in den Schnee rieselten, verblassten und im Nu verschwunden waren.
»Toll«, murmelte sie. »Und was jetzt?«
In der Ferne wand die schmale Straße sich nach links und führte auf eine düstere Kreuzung. Auf den Gehwegen türmte sich der beiseitegeschaufelte Schnee entlang der geschlossenen Häuserreihe aus weißem Stein. Die Bauten waren beeindruckend und anders als alles, was Luce je gesehen hatte. Sie waren mehrere Stockwerke hoch und ihre Fassaden bestanden aus Reihen leuchtend weißer Bögen und kunstvoller Säulen.
Alle Fenster waren dunkel. Die ganze Stadt schien im Dunkeln zu liegen. Lediglich eine vereinzelte Gaslaterne spendete spärliches Licht. Falls der Mond irgendwo am Himmel stand, dann hinter einer dichten Wolkendecke. Wieder grollte etwas in der Ferne. Donner?
Luce schlang sich die Arme um den Leib. Sie fror.
»Luschka!«
Eine Frauenstimme. Heiser und schnarrend, wie die Stimme einer Person, die ihr ganzes Leben damit verbracht hatte, Befehle zu blaffen. Aber die Stimme zitterte auch.
»Luschka, du Idiot. Wo bist du?«
Sie klang jetzt näher. Sprach sie mit Luce? Da war noch etwas anderes an dieser Stimme, etwas Seltsames, das Luce nicht ganz fassen konnte.
Dann kam eine Gestalt um die verschneite Straßenecke gehumpelt. Luce starrte die Frau an und versuchte, sie irgendwo einzuordnen. Sie war sehr klein und ging ein wenig vornübergebeugt. Vielleicht Ende sechzig. Ihre bauschigen Kleider schienen ihr viel zu groß zu sein. Das Haar hatte sie unter einem dicken schwarzen Schal verborgen. Als sie Luce sah, verzog sich ihr Gesicht zu einer schwer zu deutenden Grimasse.
»Wo warst du?«
Luce schaute sich um. Außer ihnen beiden war niemand auf der Straße. Die alte Frau sprach mit ihr.
»Genau hier«, hörte sie sich sagen.
Auf Russisch.
Sie schlug sich eine Hand auf den Mund. Das war es also, was ihr an der Stimme der alten Frau so bizarr erschienen war: Sie sprach eine Sprache, die Luce nie gelernt hatte. Und doch verstand Luce nicht nur jedes Wort, sie konnte auch in der Sprache antworten.
»Ich könnte dich umbringen«, fuhr die Frau fort und atmete schwer, während sie auf Luce zueilte und sie in die Arme nahm.
Für eine Frau, die so zerbrechlich wirkte, war ihre Umarmung sehr stark. Die Wärme eines anderen Körpers weckte in Luce nach so viel intensiver Kälte beinah den Wunsch zu weinen. Sie erwiderte die Umarmung heftig.
»Oma?«, flüsterte sie, ihre Lippen dicht am Ohr der Frau, weil sie irgendwie wusste, dass diese Frau ihre Großmutter war.
»Dass du ausgerechnet heute Abend nicht zu Hause bist, wenn ich von der Arbeit komme«, sagte die Frau, »und stattdessen wie eine
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