Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
gehört hatten.
Dann flüsterte er ihr ins Ohr: »Deine Zeit bei dieser Mission ist abgelaufen. Wage es nicht, mir in die Quere zu kommen.«
Unten fiel ein weiterer Schuss. Abermals öffnete sich schlagartig die Reihe der Startboxen. Nur dass diesmal das Hämmern der Hufe auf der Bahn kaum zu hören war. Wie ein sanfter Regen auf einem Baldachin aus Baumkronen.
Noch bevor die Rennpferde die Startlinie überquert hatten, war die Gestalt hinter ihnen verschwunden. Zurück blieben nur kohlschwarze Hufabdrücke, die sich in die Bretter der Haupttribüne eingebrannt hatten.
Eins
Unter Feuer
M OSKAU , 15. O KTOBER 1941
Lucinda!
Die Stimmen erreichten sie in der unergründlichen Dunkelheit.
Komm zurück!
Warte!
Sie kümmerte sich nicht darum und drängte weiter. Die schattenartigen Wände des Verkünders warfen Echos ihres Namens zurück, die ihr wie Hitzezungen über die Haut leckten. War das Daniels Stimme oder Cams? Arrianes oder Gabbes? Flehte Roland sie an, sofort zurückzukommen, oder Miles?
Die Rufe ließen sich immer schwerer unterscheiden, bis Luce sie überhaupt nicht mehr auseinanderhalten konnte: Gut und Böse. Feind und Freund. Sie hätten klarer zu trennen sein sollen, aber nichts war länger klar. Alles, was einst schwarz und weiß gewesen war, verschmolz jetzt zu Grau.
Natürlich waren sich beide Seiten in einem Punkt einig: Alle wollten sie aus dem Verkünder holen. Zu ihrem Schutz, würden sie behaupten.
Nein danke.
Nicht jetzt.
Nicht nachdem sie den Garten ihrer Eltern verwüstet, ihn zu einem weiteren ihrer staubigen Schlachtfelder gemacht hatten. Wenn sie allerdings an ihre Eltern dachte, verspürte sie durchaus den Wunsch umzukehren – nur dass sie keine Ahnung hatte, wie man in einem Verkünder kehrtmachte.
Eine Umkehr kam ohnehin nicht infrage. Cam hatte versucht, sie zu töten. Er hatte zwar nur auf ein Abbild von ihr gezielt, aber das hatte er nicht gewusst. Und Miles hatte sie gerettet, aber das machte es nicht einfacher. Er hatte nur deshalb dieses Abbild vor ihr projizieren können, weil ihm zu viel an ihr lag.
Und Daniel? Lag ihm genug an ihr? Sie wusste es nicht.
Und zum Schluss, als sie sich den Outcasts ergeben hatte, hatten Daniel und die anderen Luce angestarrt, als sei sie diejenige, die ihnen etwas schuldig war.
Du bist unsere Eintrittskarte in den Himmel, hatte der Outcast ihr erklärt. Der Preis. Was hatte das zu bedeuten? Bis vor zwei Wochen hatte sie nicht einmal gewusst, dass die Outcasts existierten. Und doch wollten sie etwas von ihr – so sehr, dass sie sogar gegen Daniel gekämpft hatten. Es musste etwas mit dem Fluch zu tun haben, dem Fluch, der dafür sorgte, dass Luce Leben um Leben wiedergeboren wurde. Und was erwarteten sie eigentlich von ihr? Was sollte sie für die Outcasts tun?
Lag die Antwort irgendwo auf ihrem Weg?
Ihr Magen schlingerte, als sie – tief im Schlund des dunklen Verkünders aller Wahrnehmung beraubt – durch den kalten Schatten taumelte.
Luce …
Die Stimmen verblassten und wurden leiser. Schon bald waren sie kaum mehr als ein Flüstern. Beinah so, als hätten sie aufgegeben. Bis …
… sie wieder lauter wurden. Lauter und deutlicher.
Luce …
Nein. Sie presste die Augen fest zusammen in dem verzweifelten Versuch, sie auszublenden.
Lucinda …
Lucy …
Lucia …
Luschka …
Sie fror und sie war müde und sie wollte nichts mehr hören. Sie wollte endlich in Ruhe gelassen werden.
Luschka! Luschka! Luschka!
Mit einem dumpfen Laut trafen ihre Füße auf.
Auf etwas sehr, sehr Kaltes.
Sie stand auf festem Grund, aber sie sah immer noch nichts vor sich außer einem Vorhang aus Schwärze. Dann blickte sie auf ihre Converse-Sneakers hinab.
Und schluckte.
Sie stand in dickem Schnee, der ihr fast bis zu den Knien reichte. Die feuchte Kühle, an die sie sich inzwischen gewöhnt hatte – der schattenumwallte Tunnel, durch den sie aus ihrem Garten in die Vergangenheit gelangt war –, hatte sich in etwas anderes verwandelt. Einen Ort, an dem es stürmte und der eiskalt war.
Bei Luce’ erster Reise durch einen Verkünder – von ihrem Wohnheimzimmer in Shoreline nach Las Vegas – hatten ihre Freunde Shelby und Miles sie begleitet. Am Ende waren sie auf ein Hindernis gestoßen, einen dunklen, schattenhaften Vorhang zwischen ihnen und der Stadt. Wei l Miles als Einziger etwas darüber gelesen hatte, wie man einen Verkünder für diesen Zweck benutzte, hatte er auch als Einziger gewusst, was zu tun war, und den Verkünder mit
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