Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
schwoll stärker an, als ihr lieb war, und sie zog die Blicke eines älteren Ehepaares auf sich, das sich gerade einen Platz auf der Tribüne suchte. »Wir hätten zusammenarbeiten sollen«, zischte sie, »um sie zur Strecke zu bringen, und – und ihr habt versagt.«
»Es hätte ohnehin keine Rolle gespielt.«
»Wie bitte?«
»Sie hätte sich so oder so in der Zeit verloren. Das war immer ihre Bestimmung. Und die Ältesten würden sich auch dann an einen Strohhalm geklammert haben. Denn so ist es euch bestimmt.«
Sie wollte sich auf ihn stürzen und ihn würgen, bis ihm die großen weißen Augen aus dem Kopf traten. Ihr Dolch fühlte sich an, als brenne er ein Loch durch die Kalbslederhandtasche auf ihrem Schoß. Wenn es doch nur ein Sternenpfeil gewesen wäre. Sophia sprang auf, als hinter ihnen eine Stimme erklang.
»Bitte setzt euch«, donnerte die Stimme. »Die Versammlung ist eröffnet.«
Die Stimme. Sie wusste sofort, wem sie gehörte. Ruhig und autoritär. Absolut demütigend. Sie ließ die Tribünen erbeben.
Die Sterblichen in ihrer Nähe bemerkten nichts, aber eine Hitzewelle kroch Sophias Nacken hinauf. Sie kroch durch ihren Körper und machte sie benommen. Es war kein e gewöhnliche Furcht. Es war lähmende, übelkeiterregende Panik. Wagte sie es, sich umzudrehen?
Ein kurzer, vorsichtiger Blick aus dem Augenwinkel zeigte ihr einen Mann in maßgeschneidertem schwarzem Anzug. Dunkles, kurz geschnittenes Haar, das größtenteils unter einem schwarzen Hut steckte. Das Gesicht, freundlich und attraktiv, war nicht besonders einprägsam. Glatt rasiert, mit einer geraden Nase und braunen Augen, die ihr vertraut vorkamen. Obwohl Miss Sophia ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Und trotzdem wusste sie sofort, wer er war, als hätte sie ihn schon immer gekannt.
»Wo ist Cam?«, fragte die Stimme hinter ihnen. »Er hat eine Einladung bekommen.«
»Steckt vermutlich in irgendeinem Verkünder und spielt Gott. Wie die Übrigen«, platzte Lyrica heraus und handelte sich damit einen Schlag von Sophia ein.
»Er spielt Gott, hast du gesagt?«
Sophia suchte nach den Worten, die eine solche Entgleisung wiedergutmachen konnten. »Einige der anderen sind Lucinda in die Vergangenheit gefolgt«, sagte sie schließlich. »Darunter zwei Nephilim. Wir wissen nicht genau, wie viele sonst noch.«
»Darf ich fragen« – die Stimme klang plötzlich eiskalt –, »warum niemand von euch ihr gefolgt ist?«
Sophia hatte Mühe zu schlucken und zu atmen. Ihre intuitivsten Bewegungen wurden durch Panik gelähmt. »Wir können nicht direkt, nun … wir haben noch nicht die Fähigkeiten …«
Die Outcast fiel ihr ins Wort. »Die Outcasts sind gerade dabei …«
»Ruhe«, befahl die Stimme. »Erspart mir eure Ausreden. Sie spielen keine Rolle mehr, gerade so wie ihr keine Rolle mehr spielt.«
Lange Zeit waren alle still. Es war schrecklich, nicht zu wissen, wie man ihn zufriedenstellen konnte. Als er endlich weitersprach, war seine Stimme leiser, aber nicht weniger einschüchternd. »Es steht zu viel auf dem Spiel. Ich kann nichts mehr dem Zufall überlassen.«
Eine Pause.
Dann fuhr er leise fort: »Es ist an der Zeit, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehme.«
Sophia konnte ein Aufkeuchen gerade noch unterdrücken und ihr Entsetzen verbergen. Aber ihr Zittern konnte sie nicht beherrschen. Er nahm die Dinge selbst in die Hand? Das war wahrhaftig die denkbar beängstigendste Aussicht. Unvorstellbar, mit ihm zu arbeiten, um …
»Ihr werdet euch heraushalten«, sagte er. »Das ist alles.«
»Aber …« Es war ein Versehen, doch schon hatte Sophia das Wort über die Lippen gebracht. Sie konnte es nicht zurücknehmen. Doch all ihre Jahrzehnte harter Arbeit. All ihre Pläne. Ihre Pläne!
Es folgte ein langgezogenes, erderschütterndes Brüllen.
Es ließ die Tribünen erzittern und schien sich im Bruchteil einer Sekunde über die ganze Rennbahn zu verbrei-ten.
Sophia wand sich. Das Brüllen schien sie zu durchdringen und sie im tiefsten Kern ihres Wesens zu erschüttern. Es war, als würde ihr das Herz in Stücke gerissen.
Lyrica und Vivina drückten sich an sie, die Augen fest zugepresst. Selbst die Outcasts zitterten.
Sophia dachte schon, das Brüllen würde niemals verebben und bald ihr Tod sein, als es einer so absoluten Stille wich, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können.
Einen Augenblick lang.
Zeit genug, um sich umzuschauen und festzustellen, dass die anderen Rennbahnbesucher nicht das Geringste
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