Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
verliehen ihm eine Schwerelosigkeit, die ihm einen flüchtigen Frieden schenkte. In ihrem Spiegelbild im Wasser konnte er sehen, wie leuchtend hell sie waren, wie groß und beeindruckend sie ihn erscheinen ließen.
Manchmal, in den trostlosesten Augenblicken, weigerte Daniel sich, seine Flügel auszufahren. Es war eine Strafe, die er sich selbst zufügen konnte. Die tiefe Erleichterung, das greifbare, unglaubliche Gefühl von Freiheit, das das Entfalten seiner Flügel seiner Seele verlieh, fühlte sich dann nur falsch an, wie eine Droge. Heute Nacht gestattete er sich diesen Rausch.
Er ging im Sand in die Knie und stieß sich in die Luft ab.
Wenige Meter über der Wasseroberfläche drehte er sich schnell herum, sodass sein Rücken zum Meer gewandt war und seine Flügel sich unter ihm wie ein prachtvolles schimmerndes Floß ausbreiteten.
Er flog über das Wasser, dehnte mit jedem langen Schlag seiner Flügel die Muskeln und glitt über die Wellen, bis das Wasser von Türkis zu einem eisigen Blau wechselte. Dann tauchte er tief unter die Oberfläche. Seine Flügel waren warm im kühlen Meer und bildeten ein kleines violettes Kielwasser, das ihn umgab.
Daniel liebte es zu schwimmen. Die Kälte des Wassers, die Unberechenbarkeit der Strömung, das Zusammenspiel von Meer und Mond. Es war eine der wenigen irdischen Freuden, die er wirklich verstand. Vor allem liebte er es, mit Lucinda zu schwimmen.
Mit jedem Stoß seiner Flügel stellte Daniel sich vor, Lucinda sei bei ihm und gleite anmutig durchs Wasser und schwelge in dem warmen, flimmernden Licht, wie schon so oft zuvor.
Als der Mond hell am dunklen Himmel stand und Daniel irgendwo vor der Küste von Reykjavik war, schoss er senkrecht aus dem Wasser und schlug wild mit den Flügeln gegen die Kälte.
Der Wind peitschte ihm um den Leib und trocknete ihn in Sekundenschnelle, während er immer höher und höher in die Luft hinaufstieg. Er durchbrach dichte graue Wolkenbänke, dann kehrte er um und begann unter dem weiten Sternenhimmel dahinzugleiten.
Die Liebe und die Angst und die Gedanken an sie ließen seine Flügel kraftvoll schlagen. Sie kräuselten das Wasser unter ihm, sodass es wie Diamanten glitzerte. Er beschleunigte zu einem atemberaubenden Tempo, während er zurück über die Färöer-Inseln und das Irische Meer flog. Er segelte den St.-Georgs-Kanal entlang und schließlich zurück nach Helston.
Es war völlig gegen seine Natur, auf das Erscheinen und den Tod des Mädchens zu warten, das er liebte!
Aber Daniel musste über diesen Moment und diesen Schmerz hinausblicken. Er musste all den Lucindas entgegensehen, die nach diesem einen Opfer kommen würden – und zu der einen, die er verfolgte, der letzten Luce, die diesen verfluchten Kreislauf beenden würde.
Lucindas Tod heute Abend war die einzige Möglichkeit, wie sie beide gewinnen konnten, die einzige Möglichkeit, wie sie jemals eine Chance haben konnten.
Als er schließlich das Anwesen der Constances erreichte, war das Haus dunkel und die Luft heiß und still.
Er legte die Flügel eng an den Körper und verlangsamte seinen Sinkflug entlang der Südseite des Anwesens. Dort war das weiße Dach des Gartenpavillons. Dort der mondbeschienene Kiesweg, über den sie vor einigen Augenblicken gegangen sein musste, nachdem sie sich aus dem Haus ihres Vaters gestohlen hatte, sobald alle anderen schliefen. Sie hatte ihr Nachthemd mit einem langen schwarzen Mantel bedeckt – in ihrer Eile, ihn zu finden, hatte sie alle Sittsamkeit vergessen.
Und dort – das Licht im Salon, der einzelne Kerzenleuchter, der sie zu ihm geführt hatte. Die Vorhänge waren leicht geöffnet. Weit genug für Daniel, um gefahrlos und ungesehen hineinzuschauen.
Er erreichte das Salonfenster im zweiten Stock des großen Hauses und ließ seine Flügel sanft schlagen, während er draußen schwebte wie ein Spion.
War sie überhaupt da? Er atmete langsam ein, ließ seine Flügel sich mit Luft füllen und drückte das Gesicht an das Glas.
Nur Daniel saß dort in seiner Ecke und zeichnete wie besessen. Sein früheres Ich wirkte erschöpft und verzweifelt. Er konnte sich genau an das Gefühl erinnern – wie er die schwarzen Zeiger der Uhr an der Wand beobachtet hatte, wie er jeden Moment damit gerechnet hatte, dass sie durch die Tür gestürzt kam. Er war so verblüfft gewesen, als sie sich lautlos an ihn herangeschlichen hatte, als wäre sie hinter einem Vorhang hervorgekommen.
Als sie es jetzt tat, war er aufs Neue
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