Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
arbeiten.« Luce wich genau in dem Moment zurück, als die Jungen in ihrer wilden Jagd wieder an ihnen vorbeischossen. »Wo sind wir?«
»Sie haben den Globus umkreist, um sich im Globe wiederzufinden, Mylady.« Bill deutete eine kleine Verbeugung an.
»Das Globe Theatre?« Luce duckte sich, als die Frau vor ihr ein angenagtes Hühnerbein über die Schulter warf. »Meinst du etwa Shakespeare?«
»Nun, er behauptet, er habe sich zurückgezogen. Du kennst ja diese Künstlertypen. So launenhaft.« Bill ging in die Knie, zupfte am Saum ihres Kleides herum und summte vor sich hin. »Hier ist Othello gespielt worden«, sagte Luce und nahm sich einen Moment Zeit, um das alles zu verdauen. » Der Sturm . Romeo und Julia . Wir stehen praktisch mitten in den größten Liebesgeschichten, die je geschrieben wurden.«
»Du stehst in Walnussschalen.«
»Elender Besserwisser. Das hier ist unglaublich!«
»Tut mir leid, mir war nicht klar, dass wir etwas Zeit zur Bardenvergötterung brauchen.« Er lispelte wegen der Nadel zwischen seinen spitzen Zähnen. »Jetzt mal stillhalten.«
»Autsch!« Luce jaulte auf, als er ihr heftig ins Knie stach. »Was machst du da?«
»Ich passe dich der Zeit an. Diese Leute werden gutes Geld für eine Freak Show bezahlen, aber sie gehen davon aus, dass sie sich auf der Bühne abspielt.« Bill arbeitete schnell und legte den langen, drapierten Stoff ihres schwarzen Kleides aus Versailles unauffällig in Falten, bis es seitlich gerafft war. Er schlug ihr die schwarze Perücke vom Kopf und zog ihr Haar in krause Locken. Dann beäugte er das Samtcape um ihre Schultern. Er riss den weichen Stoff herunter. Schließlich räusperte er sich und spuckte in eine Hand, rieb die Handflächen aneinander und formte das Cape in einen hohen jakobäischen Kragen um.
»Das ist absolut ekelhaft, Bill.«
»Sei still«, blaffte er. »Gib mir nächstes Mal mehr Platz zum Arbeiten. Glaubst du etwa, ich mag so einen Notbehelf? Das tue ich nicht.« Er deutete mit dem Kopf auf die johlende Menge. »Zum Glück sind die meisten zu betrunken, um das Mädchen zu bemerken, das hinter ihnen aus der Dunkelheit getreten ist.«
Bill hatte recht: Niemand sah sie an. Alle zankten herum und versuchten, sich näher an die Bühne zu drängen. Es war nur ein etwa eineinhalb Meter hohes Podest, und Luce, die hinten in der ungebärdigen Menge stand, konnte es kaum sehen.
»Jetzt macht schon!«, rief ein Junge von hinten. »Lass uns nicht den ganzen Tag warten!«
Über der Menge befanden sich drei Ränge mit Logenplätzen, und dann nichts mehr: Das O-förmige Rundtheater öffnete sich einem Mittagshimmel von hellem Graublau. Luce hielt Ausschau nach ihrem früheren Ich. Und nach Daniel.
»Wir sind bei einer Premiere des Globe.« Sie dachte wieder an Daniels Worte unter den Pfirsichbäumen der Sword & Cross. »Daniel hat mir gesagt, dass wir hier waren.«
»Sicher, ihr wart hier«, bestätigte Bill. »Vor etwa vierzehn Jahren. Du hast auf den Schultern deines älteren Bruders gehockt. Du bist mit deiner Familie hergekommen, um Julius Cäsar zu sehen.«
Bill schwebte auf Armeslänge vor ihr in der Luft. Es war unappetitlich, aber der hohe Kragen um ihren Hals schien tatsächlich seine Form zu behalten. Sie ähnelte fast den aufwendig gekleideten Frauen in den höheren Logen.
»Und Daniel?«, fragte sie.
»Daniel war ein Spieler …«
»He!«
»So haben sie die Schauspieler genannt.« Bill verdrehte die Augen. »Er stand damals ganz am Anfang. Den anderen im Publikum blieb sein Debüt nicht in Erinnerung. Aber der kleinen dreijährigen Lucinda.« Bill zuckte die Achseln. »Es hat das Feuer in dir geweckt. Du hast seither darauf« – Bill machte Gänsefüßchen in der Luft – »gebrannt, auf die Bühne zu kommen. Heute Abend ist dein Abend.«
»Ich bin eine Schauspielerin?«
Nein. Ihre Freundin Callie war die Schauspielerin, nicht sie. In Luce’ letztem Semester an der Dover Highschool hatte Callie Luce angefleht, mit ihr für Unsere kleine Stadt vorzusprechen. Sie hatten beide wochenlang geprobt. Luce hatte einen Satz sagen dürfen, aber Callie hatte mit ihrer Darstellung der Emily Webb stürmischen Beifall geerntet. Luce hatte beeindruckt aus der Kulisse zugeschaut und war stolz auf ihre Freundin gewesen. Callie hätte alles dafür gegeben, um für eine Minute in dem alten Globe Theatre zu sein, geschweige denn auf der Bühne zu stehen.
Aber dann erinnerte Luce sich an Callies bleiches Gesicht, als sie gesehen hatte, wie
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