Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
einem Leben in das nächste übergeht. Ich habe immer das Gefühl, ich kann nicht weitermachen. Ich war froh, als der Herzog meine Flucht vorausgesehen hat und dahintergekommen ist, wohin ich gehen würde. Er wartete in Savoyen, wartete mit seinen Männern am Esstisch meines Wirtes. Wartete darauf, mich hierher zurückschleifen zu können.«
Daniel erinnerte sich. »Die Strafe kam mir vor, als hätte ich sie verdient.«
»Daniel.« Das verzweifelte Gesicht des Gefangenen sah so aus, als sei ein Stromstoß hindurchgefahren. Er wirkte wieder lebendig, zumindest seine Augen. Sie leuchteten violett. »Ich glaube, ich habe es.« Die Worte überschlugen sich. »Der Herzog – lass dir das eine Lehre sein.«
Daniel leckte sich die Lippen. »Wie bitte?«
»So oft ich dir begegnet bin, sagst du, du seist ihr gefolgt. Tu das, was der Herzog mit uns getan hat. Sieh voraus, wohin sie will. Versuche nicht, sie einzuholen. Komme ihr zuvor. Erwarte sie dort, wo sie hingehen wird.«
»Aber ich weiß doch nicht, wohin ihre Verkünder sie bringen werden.«
»Natürlich weißt du es«, beharrte sein früheres Ich. »Du musst schwache Erinnerungen daran haben, wo sie landen wird. Vielleicht nicht an jeden einzelnen Schritt, aber irgendwann muss alles dort enden, wo es begonnen hat.«
Zwischen beiden herrschte ein stummes Einvernehmen. Daniel strich mit den Händen über die Wand neben dem Fenster und beschwor einen Schatten herauf. Er konnte ihn in der Dunkelheit nicht sehen, aber er konnte spüren, wie er sich auf ihn zu bewegte, und er brachte ihn geschickt in Form. Dieser Verkünder wirkte so mutlos, wie Daniel sich fühlte. »Du hast recht«, sagte er und zog das Portal auf. »Es gibt einen Ort, an den sie mit Sicherheit gehen wird.«
»Ja.«
»Und du auch. Du solltest deinen eigenen Rat beherzigen und verschwinden«, meinte Daniel grimmig. »Du verrottest hier drin.«
»Zumindest lenkt mich der körperliche Schmerz von dem Schmerz meiner Seele ab«, erwiderte sein früheres Ich. »Nein. Ich wünsche dir Glück, aber ich werde diese Mauern jetzt nicht verlassen. Nicht, bis sie sich in ihrer nächsten Inkarnation eingerichtet hat.«
Daniels Flügel stellten sich an seinem Hals auf. Er versuchte, Zeit und Leben und Erinnerungen in seinem Kopf zu sortieren, aber er kreiste ständig um den gleichen ärgerlichen Gedanken. »Sie – sie sollte sich inzwischen eingerichtet haben. In der geistigen Vorstellung. Kannst du es nicht spüren?«
»Oh«, sagte sein eingekerkertes früheres Ich leise. Er schloss die Augen. »Ich weiß nicht, ob ich überhaupt noch etwas fühlen kann.« Der Gefangene seufzte schwer. »Das Leben ist ein Albtraum.«
»Nein, ist es nicht. Nicht mehr. Ich werde sie finden. Ich werde uns beide erlösen«, rief Daniel, der nur noch dieses Verlies verlassen wollte und verzweifelt einen weiteren Sprung des Glaubens durch die Zeit unternahm.
Dreizehn
Unter einem schlechten Stern
L ONDON , E NGLAND , 29. J UNI 1613
Unter Luce’ Füßen knirschte etwas.
Sie hob den Saum ihres schwarzen Kleides: Eine Schicht weggeworfener Walnussschalen auf dem Boden war so dick, dass die holzigen braunen Stückchen bis über die Schnallen ihrer smaragdgrünen, hochhackigen Schuhe reichten.
Sie befand sich am hinteren Rand einer lärmenden Menschenmenge. Fast jeder um sie herum war in gedämpften Braun- oder Grautönen gekleidet, die Frauen in langen Gewändern mit bestickten Miedern und breiten Spitzenmanschetten an den Enden ihrer engen Ärmel. Die Männer trugen Kniehosen, breite Mäntel um die Schultern und flache Wollmützen. Luce war noch nie zuvor an einem so öffentlichen Ort aus einem Verkünder getreten, doch nun stand sie mitten in einem vollbesetzten Rundtheater. Es war erschreckend – und unglaublich laut.
»Vorsicht!« Bill packte sie an ihrem samtenen Schultercape, riss sie zurück und drückte sie gegen das hölzerne Geländer einer Treppe.
Einen Moment später stürmten zwei schmutzige Jungen in einem ungestümen Fangenspiel an ihr vorbei und warfen drei Frauen um, die ihnen im Weg standen. Die Frauen rappelten sich wieder hoch und riefen den Jungen Verwünschungen nach, die nur johlten und ihr Tempo kaum drosselten.
»Nächstes Mal«, rief Bill ihr ins Ohr und legte seine steinernen Klauen um den Mund, »möchte ich dich bitten, deine kleinen Zeitsprünge an einen etwas ruhigeren Schauplatz zu lenken. Wie soll ich in diesem Gedränge einen Kostümwechsel hinkriegen?«
»Klar, Bill, ich werde daran
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