Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
Der Boden unter ihnen schien sich zu neigen. Luce wurde schwindlig, sie schloss die Augen und hatte das Gefühl, als sei ihre Seele aus ihrem Körper gefallen. Sie sah sich selbst von außen: Ihr seltsames Kleid, das Bill eilig umgearbeitet hatte, die nackte Angst in ihren Augen. Die Hand in ihrer war weich, so weich, dass sie sie kaum spüren konnte.
Sie blinzelte, und Lucinda blinzelte, und dann spürte Luce die Hand nicht mehr. Als sie hinabsah, war ihre Hand leer. Sie war zu dem Mädchen geworden, dessen Hand sie gehalten hatte. Schnell schnappte sie sich den Umhang und warf ihn sich über die Schultern.
Außer ihr befand sich in der Garderobe nur der Mann, der mit Lucinda geflüstert hatte. Luce wurde klar, dass es William Shakespeare war. William Shakespeare. Sie kannte ihn. Sie drei – Lucinda, Daniel und Shakespeare – waren Freunde. Daniel hatte Lucinda einmal an einem Nachmittag im Sommer mit nach Stratford genommen und ihn dort besucht. Gegen Sonnenuntergang hatten sie in der Bibliothek gesessen, und während Daniel am Fenster an seinen Skizzen gearbeitet hatte, hatte Will ihr eine Frage nach der anderen gestellt – und währenddessen eifrig Notizen gemacht –, wann sie Daniel das erste Mal begegnet sei, welche Gefühle sie für ihn hege, und ob sie denke, sie könne sich eines Tages in ihn verlieben.
Neben Daniel war Shakespeare der Einzige, der das Geheimnis von Lucindas Identität – dass sie eine Frau war – und der Liebe kannte, die die Schauspieler abseits der Bühne miteinander verband. Als Gegenleistung für seine Diskretion hütete Lucinda das Geheimnis, dass Shakespeare an diesem Abend im Globe anwesend war. Alle anderen in der Truppe vermuteten, dass er in Stratford sei, dass er die Leitung des Theaters an Master Fletcher übergeben habe. Stattdessen war Will inkognito erschienen, um die Premiere des Stückes zu sehen.
Als sie wieder an seine Seite trat, blickte Shakespeare Lucinda tief in die Augen. »Du hast dich verändert.«
»Ich – nein, ich bin immer noch …« Sie betastete den weichen Brokat um ihre Schultern. »Ja, ich habe den Umhang gefunden.«
»Den Umhang, wie?« Er lächelte sie an und zwinkerte. »Er steht dir.«
Dann legte Shakespeare Lucinda eine Hand auf die Schulter, wie immer, wenn er Regieanweisungen gab: »Hör mir zu: Alle hier kennen deine Geschichte. Sie werden dich in dieser Szene sehen, und du wirst nicht sehr viel sagen oder tun. Aber Anne Boleyn ist ein aufgehender Stern am Hof. Dein Schicksal wird auch jeden Einzelnen hier betreffen.« Er schluckte. »Außerdem: Vergiss nicht, am Ende deines Textes genau auf der Markierung zu stehen. Du musst vorne links auf der Bühne sein, wenn der Tanz beginnt.«
Luce konnte spüren, wie ihr die Sätze aus dem Stück durch den Kopf gingen. Sie würde ihren Text kennen, wenn sie vor all diesen Leuten auf die Bühne trat. Sie war bereit.
Das Publikum tobte und applaudierte von Neuem. Eine Gruppe von Schauspielern verließ die Bühne und drängte sich an ihr vorbei in den Raum. Shakespeare war wieder verschwunden. Sie konnte Daniel am anderen Ende der Bühne sehen. Er überragte die anderen Schauspieler mit seiner königlichen Haltung. Er war unglaublich schön.
Ihr Stichwort kam, die Bühne zu betreten. Dies war der Beginn der Bankettszene in Kardinal Wolseys Palast, wo der König – Daniel – ein prächtiges Maskenspiel aufführen würde, bevor er zum ersten Mal Anne Boleyns Hand ergriff. Sie sollten miteinander tanzen und sich leidenschaftlich verlieben. Es sollte der Beginn einer Romanze sein, die alles veränderte.
Der Beginn.
Aber für Daniel war es keineswegs der Beginn.
Für Lucinda jedoch und für die Rolle, die sie spielte, war es Liebe auf den ersten Blick. Es war Lucinda wie das erste echte Erlebnis ihres Lebens vorgekommen, als sie Daniel erblickt hatte, genau wie Luce in der Sword & Cross. Ihre ganze Welt hatte plötzlich eine völlig neue Bedeutung erlangt. Luce konnte nicht glauben, wie viele Menschen sich in das Globe quetschten. Sie standen den Schauspielern praktisch auf den Füßen und waren so dicht an die Bühne gedrängt, dass mindestens zwanzig Zuschauer die Ellbogen auf die Bühne gestützt hatten. Sie konnte sie riechen. Sie konnte sie atmen hören.
Alle Augen waren auf sie gerichtet. Doch anstatt deswegen in Panik zu geraten, fühlte Luce sich irgendwie ruhig, sogar wie neu belebt – als ob Lucinda zum Leben erwache.
Es war eine Festszene. Luce war von Anne Boleyns Hofdamen
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