Engelsflammen: Band 3 (German Edition)
Spaß, daran erinnert zu werden, dass Bill während jeder Begegnung mit Daniel Mäuschen spielte.
»Willst du mich wirklich so hängen lassen?« Bill zog langsam die Hand zurück.
Luce ignorierte ihn. Irgendetwas in ihrer Brust fühlte sich schwer und wund an. Sie hörte immer wieder die Verzweiflung in Daniels Stimme, als er sie gebeten hatte, mit ihm fortzulaufen. Was hatte das zu bedeuten?
»Nicht wahr, Bill, ich werde heute Nacht sterben?«
»Nun …« Bill schlug die Augen nieder. »Ja.«
Luce schluckte hörbar. »Wo ist Lucinda? Ich muss wieder in sie hineinschlüpfen, damit ich dieses Leben verstehen kann.« Sie drückte gegen die Kleiderschranktür, aber Bill zog sie an der Schleife ihres Gewandes zurück.
»Hör mal, Mädchen, mach keine Gewohnheit draus. Betrachte es als eine Fähigkeit für spezielle Anlässe.« Er schürzte die Lippen. »Was denkst du, was du diesmal erfahren wirst?«
»Natürlich wovor sie fliehen muss«, erwiderte Luce. »Wovor rettet Daniel sie? Ist sie mit jemand anderem verlobt? Lebt sie bei einem grausamen Onkel? Ist sie beim König in Ungnade gefallen?«
»Oh-oh.« Bill kratzte sich am Kopf. Es machte ein knirschendes Geräusch, wie Nägel auf einer Tafel. »Ich muss irgendwo einen dummen pädagogischen Fehler gemacht haben. Du denkst, es gäbe jedes Mal einen Grund für deinen Tod?«
»Gibt es den nicht?« Sie konnte förmlich spüren, wie ihr Gesicht länger wurde.
»Ich meine, deine Tode sind nicht direkt bedeutungslos …«
»Aber als ich in Lys gestorben bin, habe ich alles gespürt – sie glaubte, dass das Verbrennen sie befreie. Sie war glücklich, weil eine Heirat mit diesem König bedeutet hätte, dass ihr Leben eine Lüge war. Und Daniel konnte sie retten, indem er sie tötete.«
»Oh, Schätzchen, denkst du das wirklich? Dass deine Tode ein Ausweg für schlechte Ehen oder so etwas sind?«
Sie kniff die Augen fest zusammen, um gegen die plötzlich aufsteigenden Tränen anzukämpfen. »Es muss etwas in der Art sein. Es muss einfach. Anderenfalls wäre es einfach sinnlos.«
»Es ist nicht sinnlos«, widersprach Bill. »Du stirbst tatsächlich aus einem Grund. Nur nicht aus einem so einfachen Grund. Du kannst nicht erwarten, alles auf einmal zu verstehen.«
Sie stieß einen frustrierten Laut aus und schlug mit der Faust gegen eine Wand des Schrankes.
»Ich kann verstehen, warum du die Nase vollhast«, meinte Bill schließlich. »Du hattest ein 3 D -Erlebnis, und du denkst, du hättest das Geheimnis deines Universums gelüftet. Aber die Dinge sind nicht immer so klar und einfach. Erwarte Chaos. Nimm das Chaos an. Du solltest trotzdem versuchen, von jedem Leben, das du besuchst, so viel wie möglich zu lernen. Vielleicht wird am Ende alles einen Sinn ergeben. Vielleicht wirst du am Schluss mit Daniel zusammen sein … Oder vielleicht wirst du zu dem Schluss kommen, dass das Leben mehr zu bieten hat als …«
Ein Rascheln erschreckte sie. Luce spähte durch die Schranktür.
Ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit graumeliertem Ziegenbärtchen und einem kleinen Bierbauch, stand direkt hinter einem Schauspieler in einem Kleid. Sie flüsterten miteinander. Als das Mädchen den Kopf leicht umwandte, erhellten die Bühnenlichter ihr Profil. Luce erstarrte bei dem Anblick: Eine zierliche Nase und kleine, mit rosafarben em Puder geschminkte Lippen. Eine dunkelbraune Perück e, unter der ein paar Strähnen langen schwarzen Haares hervorlugten. Ein wunderschönes goldfarbenes Gewand.
Es war Lucinda im Kostüm der Anne Boleyn und kurz davor, die Bühne zu betreten.
Luce tastete sich vorsichtig aus dem Kleiderschrank. Sie war nervös und brachte keinen Ton heraus, fühlte sich aber gleichzeitig seltsam gestärkt: Wenn Bill die Wahrheit gesagt hatte, blieb nicht mehr viel Zeit.
»Bill?«, flüsterte sie. »Du musst diese Sache machen, wo du auf Pause drückst, damit ich …«
»Scht!« Bills Zischen war von einer Endgültigkeit, die bedeutete, dass Luce auf sich allein gestellt war. Sie würde einfach warten müssen, bis dieser Mann wieder ging, damit sie Lucinda allein ansprechen konnte.
Unerwartet trat Lucinda vor den Kleiderschrank, in dem Luce sich wieder versteckt hatte. Lucinda griff hinein. Ihre Hand wanderte zu dem goldenen Umhang direkt neben Luce’ Schulter. Luce hielt die Luft an und ergriff Lucindas Finger.
Lucinda fuhr erschreckt auf und öffnete die Tür ganz, dann sah sie tief in Luce’ Augen und schwankte am Rande eines unerklärlichen Verstehens.
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