Engelsfluch
gehen, aber außer Alexander kannte er niemanden in Rom. Das Essen war sehr gut, in netter Gesellschaft hätte er es jedoch mehr genossen.
Er dachte an Elena, und hin und wieder vermischte sich ihr Bild mit dem von Vanessa Falk. Hatte die Deutsche ihn so sehr beeindruckt? Warum auch nicht, schließlich hatte er sie unter sehr ungewöhnlichen Umständen kennen gelernt. Er zerbrach sich den Kopf darüber, ob sie tatsächlich eine Mörderin sein konnte. Sein Gefühl sagte nein, doch sein Verstand stellte das sogleich in Frage. Nur weil sie eine sehr attraktive Frau war, machte sie das nicht automatisch zum Unschuldslamm. Zum Essen hatte er einen guten Wein getrunken, nun bestellte er an der Hotelbar einen Frozen Margarita, zu dem sich noch zwei oder drei weitere gesellten. Der Tag war aufregend gewesen, aber auch frustrierend. Der Alkohol würde ihm hoffentlich helfen, die nötige Bettschwere zu finden. Als er auf sein Zimmer ging, stellte er fest, dass die Kombination von Rotwein und Tequila eine stärkere Wirkung hatte als beabsichtigt. Eigentlich wollte er vor dem Einschlafen noch das letzte Kapitel von Fabius Lorenz Schreibers Reisebericht lesen, aber kaum hatte er sich ins Bett gesetzt und das Buch aufgeschlagen, fielen ihm auch schon die Augen zu. Als er das Buch weglegte und das Licht ausschaltete, hoffte er, dass der Alkohol ihn wenigstens traumlos schlafen ließ.
12
Rom, Sonntag, 27. September
Enricos Hoffnung erfüllte sich nicht. Sein Alptraum suchte ihn heim, und dieses Mal war es ein besonders intensives Erlebnis. Er stand dem Geflügelten gegenüber und wusste nicht, ob es ein Engel oder ein Teufel war. Das Gesicht und der ganze Körper des Geflügelten schienen von innen heraus zu oszillieren, als versuchten zwei verschiedene Wesen, die in derselben Hülle steckten, die Gewalt über das jeweils andere zu erlangen. Einmal war es ein freundliches, gütiges Gesicht und ein makelloser, elfenbeinfarbener Leib. Dann wieder starrte ihn eine höhnische, boshafte Fratze an, aus den eben noch schlanken Händen wuchsen lange Krallen, der Körper war von roten und schwarzen Schuppen bedeckt wie bei einem Feuer speienden Drachen. Während das elfenbeinfarbene Wesen mit den gefiederten Flügeln ihn faszinierte, stieß der schuppige Dämon mit den fledermausartigen Schwingen ihn ab, erfüllte ihn mit abgrundtiefem Entsetzen. Wieder war in Enricos Kopf die Stimme, die ihn magisch anzog, die ihn beschwor, sich nicht zu fürchten und Vertrauen zu haben. Enrico stand am Rand des Sees, und der Geflügelte schnitt ihm den Fluchtweg ab. Du musst nicht fliehen. Dir wird nichts Böses geschehen. Höre auf dein Herz und lass dich nicht vom äußeren Schein täuschen!
Während Enrico diese Worte vernahm, trat der schuppige Dämon auf ihn zu und breitete seine Flügel aus, als wolle er Enrico umschlingen. Enricos Panik wurde übermächtig. Er wollte zurückweichen, verlor bei einem Fehltritt den festen Boden unter den Füßen und stürzte dem See entgegen … An diesem Punkt seines Traums schreckte er hoch und stellte fest, dass es draußen bereits hell war. Durch die Vorhänge drang ein diffuses Licht, das sein Hotelzimmer weder richtig hell noch dunkel erscheinen ließ. Das Licht war zwitterhaft wie das geflügelte Wesen in seinem Traum. Während er schlaftrunken zu den Fenstern ging und die Vorhänge beiseite zog, um das Morgenlicht ungehindert einzulassen, dachte er über die Intensität seines Traums nach. Er hatte geglaubt, sich an den Alptraum gewöhnt zu haben, der ihn seit seiner Kindheit nicht losließ. Aber seit er in Italien war, hatte sich etwas geändert. Der Schutzschild, den er gegen die Furcht vor dem Geflügelten aufgebaut hatte, wies Risse auf, starke Risse. Als sei ein Dämon dabei, seinen Kerker zu sprengen und von Enrico Besitz zu ergreifen.
Er blickte hinaus auf ein Rom, das in helles Licht getaucht war. Die Sonne schien kräftig an diesem Sonntagmorgen und hatte die dicke Wolkenschicht des Vortags weitgehend zerrissen. Obwohl es noch früh war, zeigten sich erste Spaziergänger. Enrico hätte diesen Morgen genießen sollen, aber er spürte noch die Furcht vor dem Geflügelten. Tief in ihm drin saß eine Angst, deren Natur ihm unbekannt war. Sollte er sich vor einer Traumgestalt fürchten oder eher davor, den Verstand zu verlieren?
Obwohl er wenig Hunger verspürte, beschloss er, ein ausgiebiges Frühstück einzunehmen. Das Büfett im Frühstücksraum bot eine reichhaltige Auswahl. Er entschied sich
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