Engelsgesang
würde.
„Du kannst nichts daran ändern. Kapiere das einfach. Dich mitzunehmen, verstieße nicht nur gegen alle Prinzipien unserer Gemeinschaft. Es ist auch so, dass ich dich einfach nicht dabei haben möchte. Du hast dort nichts zu suchen.“ Mit diesen Worten schlug er Wolfgang die Autotür vor der Nase zu, und er musste zugeben, es verschaffte ihm eine ungeheure Genugtuung. Er wies diesen kleinen Mann nur zu gern in seine Schranken, nachdem er offenbar nicht wusste, wo sich diese befanden. Er akzeptierte, was er für Ángel empfand, denn das verstand er nur zu gut, und er war auch dankbar für das, was Wolfgang für Angel getan hatte. Aber mögen musste er ihn deshalb wahrlich nicht.
Als sie vor dem schlichten Haus in der Münchner Innenstadt ankamen, brannte schon die Laterne über dem Kellereingang und hieß sie willkommen. Niemand würde beim Anblick des unscheinbaren Hauses ahnen, was hier für seltsame Dinge abliefen.
„Ich geh vor und gebe Bescheid, dass ihr da seid“, sagte Karin.
„Okay, und wir gehen schon mal in den Vorbereitungsraum.“ Martin führte Ángel die schmale Treppe hinab. Er wusste genau, was er zu tun hatte, welche Schritte durchzuführen waren, um den Ablauf optimal zu unterstützen. Er hatte schon einige Male an ähnlichen Ritualen teilgenommen … nur standen ihm die Protagonisten bisher nie so nahe wie dieses Mal.
Er sah zu Ángel herüber, der mittlerweile wieder so wirkte, als wären diese Nacht keine unvorstellbaren Dinge geschehen. Sein Unterbewusstsein arbeitete scheinbar auf Hochtouren und hatte mittlerweile wundersame Wege gefunden, seinen Besitzer innerhalb kürzester Zeit vorzugaukeln, dass absolut nichts vorgefallen war. Doch sein Unterbewusstsein hatte Löcher, klein und zahlreich. Durch die konnten seine Probleme beim geringsten Anlass wieder hervorquellen und ihn erneut an den Rand eines Suizids führen.
So konnte Ángels Leben auf keinen Fall weitergehen. Das, was er hier tat, war das einzig Richtige. Es war sicher nur eine Lösung unter vielen … und vielleicht nicht die Beste … jedoch die Schnellste und Erfolgversprechendste. Nur so konnte er seinem Freund innerhalb kürzester Zeit helfen. Beim nächsten Mal würde Ángel in seiner selbst zerstörerischen Kurzschlussreaktion vielleicht erfolgreich sein. Darauf konnte er es keinesfalls ankommen lassen. Er hatte zwar den größten Störfaktor in Ángels Umgebung schon ausgeschaltet, aber das schien nicht mehr das massivste Problem zu sein. Ángel brauchte mehr als einen toten Vater. Er brauchte Mut, Selbstbewusstsein und Kraft, um sein Ziel und sein neues Leben anzugehen.
Dies erzählte Martin auch Frater Azurite, während Ángel in dem kleinen Vorbereitungsraum wartete.
„Bist du sicher, dass du der Zeremonie bewohnen möchtest? Du magst diesen Jungen doch“, stellte Frater Azurite mit warmer, Vertrauen einflössender Stimme fest.
„Ja, Frater. Ich mag Angel, aber ich werde ihn nicht allein lassen.“
„Wie du willst. Es ist deine Entscheidung …“ Frater Azurite sah ihn aus warmen dunklen Augen an. Dann lächelte er. „Angel heißt er also. Ist das nicht eine seltsame Ironie? Wir werden heute einen Engel auf unserem Altar opfern.“
Martin nickte und schlug die Augen nieder. „Ja, so ist es wohl.“
„Hab keine Zweifel, Sohn. Alles geht seinen Weg, so wie es ihm seit dem Beginn der Zeit vorbestimmt ist. Vertraue deinen Meistern.“
„Ich vertraue, Frater.“
„Gut, geh jetzt und hilf deinem Freund. Wir sind bald so weit“, sagte Frater Azurite und legte Martin eine segnende Hand auf den Scheitel.
Als Martin den kleinen Raum betrat, stand Ángel wie ein Häufchen Elend da. Hilflos wendete er Martin seinen Blick zu. „Ich habe solche Angst, Martin“, brach es aus ihm heraus.
Martin nahm ihn in den Arm. „Das brauchst du nicht. Ich bleibe bei dir, die gesamte Zeit. Ich bin da, egal was passiert.“
„Was wird denn passieren?“
„Das muss dich nicht kümmern. Du wirst von all dem nichts mitbekommen.“
„Werde ich denn bewusstlos sein?“
„Nein, dein Unterbewusstsein wird alles wahrnehmen und du wirst auch nichts tun, was du nicht willst, aber danach wirst du dich an nichts mehr erinnern. Glaub mir, das ist gut so. Alles hat seinen Sinn und seine Berechtigung.“
Während er Ángel bei den Vorbereitungen behilflich war, versuchte er die Angst, die auch an seinem Herzen nagte, beiseite zu drängen. „Weißt du, morgen beginnt dein neues Leben. Wir werden morgen feiern.
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