Engelsgesang
„Wie geht es dir?“, fragte er sanft.
„Martin!“, Ángel sah erfreut auf. Er wirkte in seiner Begeisterung so, als hätten sie sich schon eine Ewigkeit nicht mehr gesehen. Seine Stimme war kratzig und matt. Als er versuchte aufzustehen, versagten seine Beine ihren Dienst. Kraftlos ließ er sich wieder auf den Stuhl sinken. „Ich schaff es nicht. Ich bin so müde. Außerdem fühle ich mich wund, so wie damals, als ich mit dir am Gardasee war. Erinnerst du dich noch?“ Ángel lächelte. Ihm schien nicht aufzufallen, dass er über ihre gemeinsamen Ferien so sprach, als würden sie schon Wochen oder Monate zurückliegen, und nicht erst einige Tage. Verwirrt blickte er an sich herab. „Ich glaube, ich habe mich verletzt. Schau nur.“ Er wies auf seinen blutverschmierten Körper. Seine gesamte Haut war mit teilweise schon geronnenem Blut besudelt.
„Nein, du bist nicht verletzt. Dusch dich erst einmal. Danach geht es dir besser.“ Martin half ihm beim Aufstehen. Empörung breitete sich in ihm aus, als er sah, welche Anstrengungen es Ángel abverlangte, seinen Anweisungen zu folgen. Mit schmerzverzerrten Gesicht humpelte er an seiner Seite ins Bad.
Dieses Mal hatte es Frater Azurite eindeutig übertrieben. Martin hatte schon immer gewusst, dass hinter dessen samtweicher Stimme und den verständnisvollen Augen ein perverser Sadist steckte. Er würde es nicht auf sich beruhen lassen, wenn das Ritual nicht innerhalb weniger Tage den gewünschten Erfolg zeigte. Es war Martin egal, was Azurite mit irgendwelchen Hühnern, Katzen oder Freiwilligen machte. Ángels Geschick berührte ihn persönlich, und er würde, wenn sie ihn etwas angetan hatten, zu Dingen fähig sein, die den Zirkel in den Ruin treiben konnten. Das schwor er sich in dem Moment, als er Ángel einen Schemel in die Dusche stellen musste, da dieser sich nicht mehr aufrecht halten konnte. Liebevoll begann er ihn einzuseifen. Möglichst unauffällig untersuchte er seinen Körper dabei nach etwaigen Schürf- oder Schnittwunden. Doch er fand keine. Es war, wie er Ángel anfangs versprochen hatte: niemand hatte ihn verletzt. Das wunde Gefühl, das Ángel erwähnt hatte, konnte man wohl nicht direkt als Verletzung betrachten. So gerne es Martin auch täte. Es war wohl nur so, dass es seine eigenen Besitzansprüche verletzte.
66.
66.
Schon wieder wartete Wolfgang.
Er hatte das Gefühl, dass sein Leben, seit er Ángel getroffen hatte, in einer ewigen Warteschleife geparkt war. Das Warten lähmte ihn. Er war währenddessen zu keiner sinnvollen Tätigkeit fähig.
Er wartete nun schon seit drei Tagen. Drei Tage, in denen er bangte, ob das wahnsinnige Experiment, dem er zugestimmt hatte, erfolgreich gewesen war. Drei Tage, in denen er in seinem kleinen Zimmer umherlief und sich fast den Kopf an den Wänden einschlug. Er hatte aus lauter Verzweiflung bei der Galerie und bei dieser Künstlerin Valerie Jugan angerufen, um rauszubekommen, wo der verdammte Gruftie wohnte. Aber überall wurde er geschäftsmäßig abgefertigt, ohne dass er einen Erfolg verbuchen konnte.
Er hatte sein Zimmer nicht verlassen, da er keinesfalls verpassen wollte, wann Ángel zurückkam. Und er würde zurückkommen, das spürte er genau. In welcher Verfassung, da konnte er nur Vermutungen anstellen.
Am dritten Tag las er gerade im Internet, als ihn ein Artikel in Alarmbereitschaft versetzte. Seine Augen weiteten sich, als er las:
„ Bad Tölz-Wolfratshausen . Am gestrigen Nachmittag wurde Gabriel van Campen tot in seinem Haus entdeckt. Der allein lebende Maler und Erschaffer der heißen Abstraktion w urde von seiner Zugehfrau aufgefunden. Die Polizei geht von einem Gewaltverbrechen aus, möchte aber aus Ermittlungsgründen noch keine weiteren Informationen freigeben. Erst vor wenigen Wochen starb die Tochter des Künstlers unter mysteriösen, noch ungeklär ten Umständen.“
In Wolfgangs Kopf arbeitete es. Es bestand kein Zweifel, er wusste, wer der Mörder war, er hatte es die ganze Zeit über geahnt. Er war selber Zeuge gewesen und hatte es mit eigenen Augen gesehen. Einem Impuls folgend, griff er nach dem Telefon und ertappte sich, wie er die Nummer der Polizei eingab. Als das Freizeichen erklang, legte er sofort wieder auf. Er konnte Martin nicht der Polizei ausliefern. Nicht, so lange er nicht wusste, wie es Ángel ging. Keinesfalls wollte er Schuld daran sein, wenn irgendetwas schief lief. Er musste wohl oder übel warten. Warten, bis er eine Nachricht erhielt, dass es
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