Engelsgesang
doch.“
Eng umschlungen saßen sie auf dem kalten Boden. Ihr Haar, blond und schwarz, mischte sich zu einem bebenden Wesen.
„Ich kann so nicht mehr weiterleben“, flüsterte Ángel plötzlich mit klarer Stimme. „Ich werde es wieder tun. Irgendwann, wenn du nicht auf mich aufpasst. Du kannst nicht immer bei mir sein.“
„Das stimmt, aber ich kann mein Möglichstes tun. Du darfst dich nicht einfach aufgeben. Es warten noch so viele wunderbare Dinge auf dich. Vergiss deine Vergangenheit.“ Martin zog ihn noch enger an sich. „Hast du vergessen? Du besitzt ein einzigartiges Talent. Du kannst mit deiner Stimme Menschen verzaubern und in andere Welten entführen. Du hast ein Stipendium, und ich habe deine Zeugnisse. Hörst du, Angel? Deine Zeugnisse liegen drüben auf dem Tisch. Deinem neuen Leben steht nun nichts mehr im Weg. Absolut nichts.“
Ángel schüttelte den Kopf. „Nein! Ich werde nie wieder singen.“
„Sprich nicht so. Du hast es doch selber immer gesagt: Gott hat dir diese Stimme gegeben. Gott fordert von dir, dass du sie nutzt.“ Zum ersten Mal redete Martin von Ángels Glauben, ohne sich über ihn lustig zu machen. Doch er merkte augenblicklich, dass es dafür zu spät war.
„Gott?“ Ángel lachte spöttisch auf. „Ich verachte Gott. Seit heute Nacht kann Gott mich mal kreuzweise. Ich dachte, er wäre barmherzig, doch er ist grausam und blutrünstiger als ein Kannibale. Er hat mir einen Vater gegeben, der diese Bezeichnung nicht verdient. Gott hat meine Familie geschaffen und dann tatenlos dabei zugesehen, wie sie von dem Mann, der sie eigentlich beschützen sollte, vernichtet wurde. Erst meine Mutter, dann meine Schwester und jetzt ich. Wenn ich nur stärker gewesen wäre … ich hätte wenigstens Maria retten können …“ Ein neuerliches Schluchzen schüttelte Ángels Körper.
„Mach dir keine Vorwürfe. Ich verspreche dir, dein Vater wird dir nie wieder etwas antun. Ich gebe dir mein Wort darauf.“
„Egal … völlig egal“, sagte Ángel, während ihm die Augen zufielen.
63.
63.
Wolfgang gab vor, Kaffee aufzubrühen. Doch eigentlich dachte er über das Gespräch nach, das er zwischen Martin Ángel belauscht hatte. Dass dieser emotionslose Satanist, denn als solchen bezeichnete er ihn noch immer in seinen Gedanken, zu so liebevoller Hingabe fähig war, hätte er nie gedacht. Die ganze Zeit hatte er geglaubt, oder wenigstens gehofft, die Beziehung zwischen den zwei jungen Männern wäre rein körperlicher Natur und würde bald wieder vorüber sein. Doch da hatte er sich wohl getäuscht. Sein Traum von einem gemeinsamen Leben mit Ángel schien ausgeträumt. Nun war er das ungewünschte fünfte Rad am Wagen, der Außenseiter, der Versager, der nicht schnell genug gewesen war. Wie schon so oft in seinem Leben. Er hätte Ángel viel früher seine Gefühle gestehen sollen. Doch er war zu feige gewesen. Und nun … ein Blick auf Martin, der den schlafenden Ángel im Arm hielt, zeigte es ihm unmissverständlich, war es zu spät.
Er seufzte und stellte die Kanne mit dem starken Kaffee auf den niedrigen Tisch.
„Ich weiß ja nicht, wo sein Problem liegt“, sagte Karin und spielte an ihrem silbernen Totenkopfring herum, der ihren Mittelfinger schmückte. „Aber bist du noch nie auf den Gedanken gekommen, ihn mal mitzubringen? Du weißt, dass Frater Azurite Möglichkeiten hat, die über die einer normalen Psychotherapie hinausgehen.“
„Natürlich, was denkst du denn? Aber er wollte davon nichts wissen. Sein christlicher Glaube stand ihm im Weg. Er hätte nie eingewilligt“, antwortete Martin und verstummte sofort wieder, als wäre ihm ein alles über den Haufen werfender Gedanke gekommen.
„Was meint sie damit?“, mischte sich Wolfgang ein.
„Ich glaube nicht, dass dich das etwas angeht“ schmetterte Martin seine Frage ab.
„Ich glaube doch. Er ist genau so mein Freund wie deiner. Ich habe genauso viel Anteilnahme an seinem Leben wie du. Und denke nur nicht, dass es mir egal ist, ob und wann er noch einmal einen Selbstmordversuch begeht. Ich habe ihn bei mir aufgenommen, als er nicht wusste, wo er hin sollte, ich habe seine nächtlichen Albträume miterlebt, ich habe sein Talent entdeckt, ich habe ihn mit den richtigen Leuten zusammengebracht. Ich leide genau so wie du! Du bist nicht der Einzige!“ Wolfgangs Gesicht hatte sich gerötet. Er stand da, die Hände in die nicht vorhandenen Hüften gestützt und sah Martin mit brennenden Augen an. „Sag mir nie
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