Engelsgesang
noch mit deiner Malerei, mit dieser brotlosen Kunst, oder was? Heinz, sag doch auch mal was!“
Martin riss seinen Arm zurück und stand mit einem Ruck auf. Der Stuhl schlitterte dabei einen halben Meter zurück und verursachte dabei ein Kreischen auf dem Marmorboden. „Das ist mein Körper und ich kann mit ihm machen, was ich will.“ Seine Stimme bebte vor unterdrückten Zorn.
„Dass du dich kleidest wie ein wahnsinniger Leichenbestatter, so dass die Nachbarn schon darüber reden, kann ich vielleicht noch ertragen“, die Stimme seine Mutter hatte jetzt einen schrillen Klang angenommen, „aber dass du diese furchtbaren Dinge mit deinem Körper machst, ertrage ich nicht. Und in ein paar Jahren kommst du zu deinem Vater gerannt und verlangst, dass er dir hilft. Weißt du eigentlich wie teuer das Lasergerät in seiner Praxis war? Denkst du, er hat es für dich gekauft? Er kann dir dieses Ding da auf deiner Schulter nicht einfach so weg machen. Es gibt Menschen, die müssen Jahre sparen, damit sie ihre Jugendsünden wieder von der Haut runter bekommen. Du wirst mit diesem verdammten Ding leben müssen. Schau dich doch an!“
Martin drehte sich um und rannte aus dem Zimmer.
„Du hast dich damit für immer verunstaltet“, verfolgte ihn die Stimme seiner Mutter bis in den Flur, wo er sich die schweren Schuhe anzog und die Lederjacke überwarf. „Das ist nicht das gleiche wie dein grausiges Make-up. Dieses Ding auf deiner Haut kannst du nicht einfach wegwischen.“
Martin stürmte aus dem Haus und warf die Tür mit einem Schlag hinter sich zu. Seine Mutter saß am Abendbrottisch und vergrub ihr Gesicht in den solariengebräunten Händen.
„Was haben wir nur falsch gemacht?“, schluchzte sie.
„Lass ihn doch. Er kann es sich doch erlauben. Irgendwann wird er schon noch erwachsen werden“, kam die tiefe Stimme ihres Ehemanns hinter der hochgehaltenen Zeitung hervor.
Als Martin die Tür seines schwarzen BMW’s hinter sich zuzog, umgab ihn endlich Stille. Alle Geräusche der Außenwelt waren für einen kurzen Moment ausgesperrt. Er lehnte seine Stirn an das kühle Lederlenkrad und lauschte auf das Pochen seines Herzens. Mit einer Hand öffnete er das Handschuhfach und angelte ein Tütchen hervor. Er schüttete sich den Inhalt auf seine Handfläche, suchte eine Crystal Speed Pille raus und warf sie sich in den Mund. Mit zusammengepressten Augen schluckte er sie herunter. Dann betätigte er den Anlasser und im selben Augenblick als der Motor ansprang, setzte harte, bassbetonte NuMetal Musik ein. Ein Tritt auf das Gaspedal und das Sportcoupé setzte sich mit durchdrehenden Reifen in Bewegung.
Er fuhr einen Umweg über den äußeren Ring, während er spürte, wie sich seine Nerven allmählich beruhigten, die Wirkung der Droge einsetzte und die laute Musik alle störenden Gedanken verdrängte. Zurück blieb nur die sich überschlagende Stimme des Sängers aus den Lautsprechern, die von Schmerzen und Blindheit sang.
Martin liebte diese Musik. Sie drückte genau die innere Auflehnung, und den Lebensunmut aus, den er auch in seine Bilder zu bringen versuchte. Es reichte ihm nicht mehr, nur durch sein äußeres Erscheinungsbild aufzurütteln. Er wollte mehr. Er wollte, dass alle Welt seine Kunst sah, die tief aus seinem Inneren kam. Die Menschen mussten sie nicht verstehen, aber sie sollten in ihrer Gegenwart unfähig sein, sie zu ignorieren, genau so, wie die Kunst von diesem Gabriel van Campen, von dem Valerie letztens in der Stunde erzählt hatte. Ihr Vortrag, das konnte er nicht leugnen, hatte ihn so beeindruckt, dass er noch am selben Tag nach diesem Künstler gegoogelt hatte. Valerie hatte nicht übertrieben. Van Campens Kunst war hart und grenzwertig, und genau diesen Weg wollte er auch einschlagen.
Mit quietschenden Reifen bremste er vor Valeries Haus ab. Er fühlte sich euphorisch, voller Energie und Ideen. Alles was ihn vor einer Stunde noch verärgert hatte, war jetzt unwichtig geworden. Als Valerie die Tür öffnete, trat er ohne eine Begrüßung ein.
„Hallo, Martin, du bist zu spät.“ Valerie schloss die Tür und verschränkte ihre Arme vor der Brust.
„Ich habe eine Idee“, sprudelte Martin hervor.
„Schön für dich.“ Sie beobachtete, wie er in das Studio lief, seine Jacke achtlos auf den Boden fallen ließ und sich das T-Shirt über den Kopf zog. Ein netzartiges filigranes Tattoo bedeckte jetzt seinen gesamten Oberkörper.
„Gefällt es dir? Genau nach deinen Anweisungen“, sagte
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