Engelsgesang
geklärt. Ansonsten komm ich das nächste Mal mit. Dann zeigen wir ihm, wo der Friedhof ist.“ Wolfgang grinste. „Kennst du eigentlich schon den? Ein Grufti läuft mit einer Ratte auf der Schulter über die Straße. Kommt eine Frau und sagt: ‚Igitt, wie kann man sich nur mit so einem Vieh sehen lassen?’ Sagt die Ratte: ‚Kann ich doch nichts dafür!’“ Wolfgang wartete, bis Ángel wenigstens ein müdes Lächeln zeigte. „Glaub mir, diese Typen verstecken ihr mickriges Selbstbewusstsein hinter einer möglichst Furcht einflössenden Fassade. Sag ihm beim nächsten Mal, dass du eine Freundin hast. Dann ist er sicher beruhigt und zieht ab. Wahrscheinlich wird er sogar froh darüber sein, nicht in eine körperliche Auseinandersetzung mit dir zu geraten. Solche Leute haben doch Angst, dass ihr Make-up verwischt.“
„Bestimmt hast du Recht. In ein paar Tagen geh ich noch mal zu Valerie. Dann werde ich ja sehen.“ In Ángels Stimme schwang noch immer Unsicherheit, doch er bemühte sich sehr, gelassen zu klingen. Mit konzentrierten Bewegungen begann er das Frühstück anzurichten.
„Wo hast du nur gelernt, solche leckeren Rühreier zu machen?“ Wolfgang griff nach der Gabel, noch bevor er sich richtig gesetzt hatte. „Dein Kaffee ist schon himmlisch, aber deine Rühreier schlagen alle Restaurants, die ich kenne. Und das sind wirklich nicht wenige…“
„Seit meine Mutter tot ist, war ich immer für das Frühstück verantwortlich gewesen. Mein Vater bestand darauf, dass seine Eier jeden Tag die gleiche Qualität hatten.“ Ángel senkte den Kopf und strich sich Margarine auf eine Toastscheibe.
„Ist dein Vater auch der Grund, warum du selbst kein Rührei isst?“, fragte Wolfgang, während er sich eine volle Gabel in den Mund schob.
„Sozusagen … ich bin nie in die Verlegenheit gekommen, sie zu probieren … und nun will ich nicht mehr.“ Ángel verstummte und tat so, als würde das Essen seine ganze Aufmerksamkeit fordern. Doch Wolfgang war viel zu beschäftigt, um Ángels Unwohlsein zu bemerken. Er ließ sich das komfortable Frühstück schmecken, das der Junge ihm bereitet hatte. Früher hatte es immer nur eine Tasse Kaffee für ihn gegeben. Er musste zugeben, an so etwas konnte er sich gewöhnen …
Als Wolfgang seinen Teller geleert hatte, was schneller ging, als man seiner dürren Gestalt zutraute, lehnte er sich zurück und sah Ángel mit einem sonderbaren Blick an. „Angel?“ Sein Tonfall klang vorsichtiger, so als müsse er sich erst einmal auf diesem, für ihn fremden Terrain, vortasten. „Letztens, im Bad, da hast du doch dieses Lied von der Händel CD gesungen …“
Ángel hob den Kopf. Sein Gesicht nahm eine rote Färbung an. „Das Lascia ch'io pianga ? Du hast mich gehört?“
Wolfgang nickte. „Genau das! Könntest du das noch mal für mich singen?“
„Wie? Jetzt?“
„Ja, natürlich. Ich würde mich wirklich freuen.“
Ángel sah ihn erschrocken an. „Weißt du … das ist mir irgendwie peinlich ... Ich habe noch nie vor jemanden gesungen.“
„Bitte! Ich hab dich doch sowieso schon gehört. Tu einfach so, als wärest du wieder im Bad und ich wäre gar nicht da.“
Ángel fuhr sich mit der Hand durch die widerspenstigen Locken. „Okay … was soll’s … für dich.“ Er drehte sich zum Fenster. Die Sonne schien herein und zeichnete Goldreflexe auf sein Haar. Mit geschlossenen Augen stand er da, als genieße er die Wärme der Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Dann holte er Atem. Sein Brustkorb hob sich und als er den Mund öffnete, erklang ein hoher klarer Ton, der jedes Härchen an Wolfgangs Körper aufrichtete. Ángel sang mit der gleichen Engelsstimme wie damals, und Wolfgang saß mit offenem Mund da und konnte ihn nur anstarren. Als Ángel nach wenigen Minuten endete, blieb er zum Fenster gewandt stehen und wartete. Als keine Reaktion von Wolfgang kam, sagte er: „Wusste ich’s doch. Ich hab mich blamiert.“
Wolfgang schluckte. „Nein, Ángel, es war wundervoll. Einfach göttlich. Hat dir das noch nie jemand gesagt?“
„Übertreib bitte nicht! Ich weiß, dass ich nicht gut bin.“
„Glaub mir, du bist gut.“ Wolfgang sprang auf und fasste den Jungen an den Schultern. „Du bist sogar mehr als gut. Weißt du, welche Stimmlage du gerade eben gesungen hast?“
„Ich habe da nicht so viel Ahnung“, entgegnete Ángel und blickte verunsichert auf den Boden. „Ich weiß, dass es bei Männern Bass und Tenor gibt. Ich tippe mal auf … Tenor?“
„Du
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