Engelsgesang
er zumindest.
„So geht es den meisten, wenn sie ihre Fotos das erste Mal sehen. Deine Reaktion ist nicht ungewöhnlich. Glaub mir. Schlimm wäre es, wenn ich nur den Ángel, der du auf den ersten Blick bist, eingefangen hätte. In dem Fall wärst du entweder ein unbrauchbares Model oder ich eine schlechte Fotografin.“
In Valeries Hand baumelten ein paar grobe Hanfseile, in der anderen hielt sie einen weißen Baumwollslip. Als sie Ángels erstaunten Blick sah, wies sie auf das Buch in seinem Schoß.
„Seite 321 habe ich gesagt. Schlag nach, dann wirst du schlauer.“
Ángel folgte ihrer Anweisung. Das Buch enthielt Gemälde. Viele davon waren religiöser Art. Auf der angegebenen Seite war ein Bild, das einen jungen Mann zeigte, der an einen Baum gefesselt war. Pfeile steckten in seinem Körper, und er schaute verklärt gen Himmel.
„Das Gemälde von Antonello da Messina ist aus dem 15. Jahrhundert“, erklärte Valerie. „Es zeigt den heiligen Sebastian. Früher war er der Schutzpatron gegen die Pest. Ich möchte dieses Motiv modernisieren, sozusagen in unsere Zeit transportieren. Mit dir. Das Thema des heiligen Sebastian ist übrigens immer noch aktuell. Für viele ist er mittlerweile der Schutzpatron der Schwulen und Aidskranken. Hast du damit ein Problem?“, fragte Valerie, als sie sein verwundertes Gesicht sah.
„Ähm … nein“, stotterte Ángel.
„Oder hast du ein Problem damit, fast nackt zu sein?“
Wieder schüttelte Ángel den Kopf.
„Gut.“ Valerie hielt ihm den weißen Slip entgegen. „Dann zieh dich mal um. Beeil dich! Ich muss dich noch schminken.“ Sie wies zu einem Tablett auf dem kleine Pfeile und eine Tube mit roter Farbe lagen.
Als Ángel sich immer noch nicht rührte, ergänzte sie lächelnd: „Keine Sorge, ich habe dich schon mal nackt gesehen … Aber du kannst zum Umziehen auch ins Bad gehen. Hinter der Tür hängt ein Morgenmantel für dich.“
Ángel riss sich aus seiner Erstarrung und folgte der angegebenen Richtung. Dass sie ihn heute als Martyrer ablichten würde, musste er erst einmal verdauen. Konnte er das tun oder war es Blasphemie? Er war zwar gläubig, aber damit kannte er sich nicht aus. Ein etwas ungutes Gefühl hatte er dabei schon … Doch er brauchte das Geld …
Als er die besagte Tür öffnete, nahm ihn augenblicklich der Anblick des gigantischen Badezimmers gefangen. Halogenlicht spiegelte sich in schwarz glänzenden Fliesen und ein riesiger Spiegel nahm die gesamte Wand über den zwei Waschtischen ein. Diese kühle Eleganz erinnerte ihn an zu Hause, und jagte ihm einen kalten Schauer über den Rücken. Wohl würde er sich hier niemals fühlen, aber das musste er auch nicht. Schnell wechselte er die Kleidung. Als er ins Atelier zurückkam, war er entschlossen, sich über die Art der Fotos keine weiteren Gedanken zu machen.
„Magst du Cola?“ Valerie hielt ihm ein Glas entgegen.
Ángel nickte stumm und trank einen großen Schluck. „Das ist Cola?“, fragte er vorsichtig.
„Cola mit Wodka“, antwortete Valerie geistesabwesend, während sie rote Farbe aus der Tube auf eine Palette drückte. „Eigentlich mehr Wodka als Cola.“ Dabei sah sie ihn kurz an und lächelte. „Für die Märtyrersession musst du entspannt und etwas entrückt wirken. Schau dir noch mal den Blick des heiligen Sebastians auf dem Gemälde an, dann weißt du, was ich meine. Ich denke, mit ein wenig Wodka kriegen wir das schon hin. Trink aus! Und wenn du mehr magst, nimm dir was aus der Bar.“
Gehorsam trank Ángel sein Glas aus und sah Valerie bei ihren Vorbereitungen zu. Ihre Handgriffe waren schnell und geschickt. Sein Blick wanderte umher und blieb an einer Mappe mit der Aufschrift: „Kleine Tode“ hängen, die unter seinen Fotos hervorschaute. Neugierig schlug er sie auf und zuckte sofort zusammen, als ihm das Gesicht des Gothic-Typen, an dessen unangenehme Begegnung er sich nur zu gut erinnerte, entgegen blickte. Genau wie bei seinen eigenen Bildern handelte es sich um Portraits, und doch waren diese hier völlig anders. Auf den meisten Fotos hatte der Typ halbgeschlossene Augen, einen fast schmerzverzerrten und trotzdem, auf seltsame Weise, sinnlichen Ausdruck. Auf den wenigen Bildern, bei denen er direkt in die Kamera sah, schien sein Blick den Betrachter zu durchbohren, fast so, als wolle er in dessen Seele eindringen.
Ángel spürte, wie ihn Beklemmung beschlich. Er fühlte sich, als ob er etwas Verbotenes betrachtete, etwas das nicht für seine Augen
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