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Engelsgesang

Engelsgesang

Titel: Engelsgesang Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: S.A. Urban
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Normalerweise gelang es ihm nicht. Doch heute, kaum, dass er die ersten Noten sang, war sein Kopf, bis auf die klingenden Töne, leer. Nichts war mehr wichtig, kein Zeugnis, das unerreichbar in seinem Elternhaus lag, kein Vater, gar nichts, bis auf die Musik. Er ließ sich von seiner Stimme in die höchsten Höhen und die tiefsten Tiefen tragen. Professor Endele nickte anerkennend, während er die Übungen absolvierte, die seinen gesamten Stimmumfang beanspruchten.
    „Sehr schön, du hast einen wunderbaren Mezzosopran“, sagte er endlich. „In den Tiefen müssen wir aber noch etwas arbeiten. Ich denke, da hast du noch Spielraum. Nachher gehst du bitte zu meiner Assistentin, sie wird dir wieder bei der Notenlehre helfen. Du hast zwar ein außergewöhnliches Gehör und auch eine bemerkenswerte Erinnerungsgabe, doch ums Notenlesen wirst du nicht drum herumkommen. Egal wie scheußlich du das findest.“ Er musterte Ángel mit hochgezogenen Augenbrauen. Er kannte schon jetzt die Schwächen seines Schülers, genau so, wie ihm sofort dessen Stärken aufgefallen waren. „Keine Widerrede“, tadelte er ihn sanft, als er Ángels gerunzelte Stirn sah. „Ich weiß genau, was in deinem Kopf vorgeht. Ich habe vor, dich im Belcantostil zu unterrichten, da ist Notenlesen, wie bei einem Studium sowieso, unabdingbar. Mach dich auf harte Arbeit gefasst. Du willst es doch noch immer, oder?“
    „Natürlich, Professor.“
    „Gut, ansonsten könnten wir gleich jetzt damit aufhören.“ Professor Endele sah Ángel nochmals forschend an, dann wendete er sich zufrieden ab und begann eine komplizierte Melodie zu spielen. Herausfordernd sah er Ángel an. „Jetzt du.“
    Angel schaffte sie zu zwei Dritteln nachzusingen, dann gab er auf.
    „Siehst du, genau das meine ich. Hier“, Professor Endele tippte auf das Notenblatt vor sich, „hier steht es, schwarz auf weiß. Du musst es nur lesen können. Also noch einmal.“
    Während er es erneut spielte, forderte er Ángel auf, den Noten mit den Fingern zu folgen. Nach unendlichen Wiederholungen konnte Ángel das Stück endlich fehlerfrei singen, genau so wie der Professor es von ihm verlangte.
    „Wundervoll. Du hast es für heute geschafft. Ich habe noch nie jemanden gehört, der ein so kompliziertes Legato in einer Stunde perfekt konnte. Du bist wirklich etwas Besonderes, Angel.“
    Verlegen senkte Ángel seinen Blick und murmelte ein undeutliches „Danke“.
    „Lass dir mein Lob nur nicht zu Kopf steigen. Du musst üben, üben, üben! Hast du das verstanden?“
    „Ja, Professor“, flüsterte Ángel.
    „So, aber deine Arbeit ist ja noch nicht zu Ende. Geh nach nebenan, zu meiner Assistentin. Sie weiß, was sie zu tun hat. Viel Spaß!“
    Ángel verabschiedete sich und verließ den Raum. Er war erschöpft, doch er wusste, dass Professor Endele dies nicht als Entschuldigung gelten ließ. Schon bei ihrer ersten Stunde hatte er ihm unmissverständlich zu verstehen gegeben, dass er ihn aus freien Stücken unterrichtete. Wenn er sich nicht als würdig erwies, würde er ihn ohne weitere Begründung fallen lassen. In solchen Momenten wie jetzt, verfluchte er seine Entscheidung, dies hier durchzuziehen. Dieser Weg würde sowieso bald ein Ende haben. Und zwar aus dem einfachen Grund, weil er nicht an sein verfluchtes Zeugnis rankam. Nicht mal seine Schwester schien ihm helfen zu können. Immer, wenn er Maria anrief, hallte ihm die Stimme seines Vaters aus dem Hörer entgegen. Maria ging einfach nicht mehr ans Telefon, und mit seinem Vater konnte und wollte er nicht reden.
    Nie wieder!

37.
    37.
     
    Als er nach drei Stunden das Gebäude der Musikhochschule verließ, glaubte er einer Halluzination zu erliegen. Die Sonne blendete ihn, Lichtblitze zuckten durch seine Augen, die durch die lange Zeit im Inneren des dunkeln Gebäudes empfindlich reagierten. Das vor ihm liegende Szenario erschien ihm im ersten Moment wie ein Déjà - vu. Martin lehnte an seinemglänzenden Auto und wartete. Nur die Erschöpfung und das Dröhnen in seinem Kopf, die von der anstrengenden Unterrichtsstunde herrührten, machten Ángel bewusst, dass er nicht träumen konnte. Martin wartete wirklich auf ihn, zum zweiten Mal an diesem Tag.
    „Lust auf ein spätes Mittagessen?“, fragte Martin gerade heraus. Trotz seiner lässigen Haltung nahm Ángel seine innere Anspannung fast körperlich wahr.
    „Musst du heute nicht an die Uni?“, fragte Ángel, nachdem er den Kloß, der ihm im Hals saß, heruntergeschluckt

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