Engelsgesang
sollte das noch gut gehen? Der Junge brauchte dringend Hilfe und Wolfgang war sich nicht sicher, ob seine ausreichen würde.
Als er den Anruf von dieser Valerie bekam, hatte er sich sofort ein Taxi gerufen und war zu ihrem Haus gefahren. Dass sie ihm das Taxi zahlte, war das einzig Positive, was er über diese Frau sagen konnte. Sie hatte die vielen Stunden, die er an Ángels Bett aufgepasst hatte, an ihrem Computer gesessen und gearbeitet. Sie kümmerte sich, nachdem er gekommen war, überhaupt nicht mehr um den Jungen. Auch auf seine Frage, was denn vorgefallen war, hatte sie nur nichtssagende Ausflüchte gemacht.
Die Einladung zu ihrer anstehenden Vernissage, die sie ihm am nächsten Morgen wohl als Dank in die Hand gedrückt hatte, verbesserte seinen Eindruck von ihr um keinen Deut. Für Wolfgang stand fest: sie war eine gefühlskalte Schlampe.
Jetzt nahm er die Einladungskarte in die Hand, sah sie an und legte sie mit einem abfälligen Schnaufen wieder auf seinen Schreibtisch. Ganz bestimmt würde er hingehen, aber sicher nicht wegen der Künstlerin … er würde sich Ángels Fotos keinesfalls entgehen lassen, das war der einzige Grund. Ein nervöses Flattern breitete sich in seinem Magen aus, als er daran dachte.
Die Badtür schwang auf und Ángel trat, begleitet von einer Wolke feuchter Luft, heraus. Seine blonden Locken hingen gebändigt auf seine Schulter herab. Wolfgang lächelte, als er daran dachte, dass nur ein Windstoß ausreichen würde, sie zu zerzausen und ihrem Besitzer erneut ein wildes, ungestümes Aussehen zu geben.
„Ich muss los.“ Ángels Worte ließen Wolfgang aus seinen Träumereien aufschrecken.
„Wo willst du denn hin?“
„Gesangsstunden bei Professor Endele. Das liegt doch sicher auch in deinem Interesse“, sagte Ángel angriffslustig und tastete nach seinem Mantel.
„Ja, sicher. Willst du nicht noch einen Kaffee?“
„Keine Zeit!“
„Fühlst du dich denn schon wieder fit genug?“, fragte Wolfgang besorgt. „Du sollest dich nicht übernehmen.“
„Wie oft soll ich es dir noch sagen? Mir geht es gut. Ciao. Warte nicht auf mich.“
Die Tür fiel zu und Wolfgang setzte sich niedergeschlagen an seinen Schreibtisch. Es verletzte ihn, dass Ángel sich so von ihm zurückzog. Doch er konnte nicht anders, als sich weiterhin um ihn zu sorgen und für ihn da zu sein.
Ob Ángel es wünschte oder nicht, war dabei nicht von Belang. Er würde warten, auf einen Anruf, der ihn zu Hilfe rief oder darauf, dass Ángel wohlbehalten zurückkehrte. Es war ihm einfach nicht möglich, über seinen Schatten zu springen.
35.
35.
Als Ángel auf den Gehweg hinaustrat, blieb er jäh stehen. Nicht der schnittige schwarze Sportwagen, der vor dem Haus stand, zog seine Aufmerksamkeit an, sondern der Mann, der sich lässig an dessen Kotflügel gelehnt hatte.
Ángel zwinkerte mehrmals, bevor er seinen Augen traute. Das Lächeln, das sich gerade auf seinem Gesicht ausbreiten wollte, wischten die aufkommenden Erinnerungen augenblicklich weg.
Nein! Er freute sich nicht, Martin wieder zu sehen. Er hatte sich vorgenommen, ihn für immer aus seinem Gedächtnis zu streichen.
Schnell drehte er sich nach links und lief an dem Auto vorbei, seine Augen fest auf die Gehwegplatten gerichtet. Er spürte Martins Blick wie Finger über seinen Rücken streichen und es fiel ihm unendlich schwer, so zu tun, als hätte er ihn nicht bemerkt. Dieses schmale, von schwarzem Haar umrahmte Gesicht, diese stechend blauen Augen … Seine Bewegungen fühlten sich, während er sich zwang weiter zu gehen, wie die eines Roboters an. Er hasste sich dafür.
Er war nur wenige Schritte weit gekommen, die sich für ihn zu endlosen Kilometern dehnten, als Martins Stimme ihn dazu brachte, anzuhalten.
„Angel, ich muss mit dir reden.“
Ohne sich umzudrehen, antwortete er: „Was willst du? Ich hab’s eilig.“
„Bitte, Angel, nur ein paar Minuten, ich fahr dich nachher auch, wohin du willst.“
Langsam drehte sich Ángel um. Seine Beine zitterten, als er Martin endlich ansah. Trotzdem klang seine Stimme bemerkenswert desinteressiert. „Gut, fang an, ich höre.“
Martin kam zwei Schritte auf ihn zu. Jetzt, wo er sich nicht mehr an seinem Wagen abstützte, wirkte er unsicher und nervös.
„Ich wollte dir sagen … dass es mir leid tut. Du weißt schon … bei dem Konzert ... Ich hatte dich überall gesucht und nicht gefunden … und dann …“
„Warte“, unterbrach ihn Ángel. „Wieso glaubst du, es wäre mir
Weitere Kostenlose Bücher