Engelsgesang
wichtig, was du mit irgendwem irgendwo tust? Wieso glaubst du, ich möchte deine Entschuldigung hören? Was fällt dir überhaupt ein, hier her zu kommen und mich anzuquatschen?“
Ángels Stimme war zornig und überschlug sich fast. Er erschrak selbst vor der Intensität der Gefühle, die ihn überrollten. Noch mehr erstaunte ihn aber Martins sanfte, beschwichtigende Reaktion.
„Ich … ich hatte deine Telefonnummer nicht. Aber ich kannte ja diese Adresse … deshalb …“
„Und deshalb lauerst du mir schon wieder auf? Was fällt dir ein? Was glaubst du, wer du bist, und welches Recht du dir herausnehmen kannst?“ Ángel war wütend. Er konnte nicht an sich halten und versetzte Martin einen Stoß vor die Brust. Die ganze aufgestaute Enttäuschung brach aus ihm heraus. Er konnte es nicht verhindern. Und ehrlich gesagt, wollte er es auch gar nicht mehr verhindern. Er wollte Martin verletzen, so wie er verletzt worden war.
„Und weißt du was?“, setzte er nach und starrte Martin feindselig ins Gesicht. „Ich habe mit Valerie geschlafen, wieder und immer wieder. Eine ganze Nacht habe ich in ihrem weißen Schlafzimmer verbracht. Und wir haben Dinge getan, die du dir nicht mal in deinen kühnsten Träumen vorstellen kannst. Was sagst du dazu?“ Herausfordernd sah er Martin an. „Was willst du jetzt machen? He?“
„Nichts. Du kannst tun, was du willst.“ Leise, fast unhörbar, sprach Martin diese Worte und der nächste Satz ließ Ángels Zorn endgültig verrauchen: „Ich wollte dich nur wieder sehen.“
Als Martin ihn ansah, fühlte Ángel sich unendlich hilflos. Was war nur los? Er verstand sich selbst nicht mehr. Am liebsten würde er Martin eine Faust ins Gesicht schlagen, aber gleichzeitig wollte er sich auch schluchzend in seine Arme werfen. Dieser Zwiespalt zerriss ihn innerlich.
„Steig ein“, sagte Martin leise und öffnete die Beifahrertür. „Ich halte mein Versprechen und fahre dich.“
Ángel fühlte sich benommen, er war völlig durcheinander. Ihm war jetzt nicht nach Gesangsunterricht, er würde nicht mal in der Lage sein, einen klaren Ton herauszubringen. Er fühlte sich so ausgelaugt und matt. Am liebsten würde er sich irgendwo im Dunkeln verkriechen und schlafen. Alle Gefühle auslöschen und einfach nur Ruhe und Stille um sich spüren. Trotzdem folgte er Martins Aufforderung und stieg in den Wagen ein. Das schwarze Leder des Sitzes gab leicht unter seinem Gewicht nach und war angenehm kühl. Ángel lehnte sich zurück und schloss die Augen.
„Wo soll ich dich hinfahren?“
„Zur Musikhochschule in der Arcisstraße“, antwortete Ángel.
„Du studierst?“
„Nein.“
Fragend sah Martin seinen Beifahrer an. Doch dieser schien keine weiteren Informationen geben zu wollen.
„Wie lange hast du gewartet?“, fragte Ángel nach minutenlangem Schweigen.
„Wie bitte?“
„Vorhin, vor meinem Haus. Wie lange hast du auf mich gewartet?“
„Ach so … Keine Ahnung … Auf jeden Fall bin ich schon ewig nicht mehr so früh aufgestanden.“ Martin grinste und trat das Gaspedal durch, so dass sie in die Sitze gedrückt wurden.
36.
36.
Professor Endele saß am Klavier und begrüßte Ángel erfreut. „Angel, schön, dass du da bist. Lass uns gleich anfangen. Es wird Zeit, dass wir aus deiner Stimme einen funkelnden Brillianten machen.“
Ángel legte seinen Mantel ab und stellte sich neben das Klavier. Professor Endele schlug die erste Oktave an, mit der er immer die Erwärmung einstimmte, unterbrach sich aber sofort wieder: „Hast du an deine Zeugnisse gedacht?“
Ángel schaute ihn entsetzt an. „Tut mir leid, Professor, mir ist es zurzeit nicht möglich … meine Zeugnisse liegen … ich bringe sie ihnen sobald ich …“ Ángel wand sich unter dem Blick seines Mentors.
„Okay, ich verstehe“, unterbrach ihn Professor Endele. „Sei dir bewusst, Angel, dass dein Weg ohne diese Zeugnisse bald zu Ende ist. Ich habe Geduld mit dir, denn ich glaube an dich. Ich will dir diese Chance geben, aber irgendwann musst du auch etwas tun. Und bei dieser Sache kann ich dir nicht helfen. Beschaffe dir die Zeugnisse, und lass dir nicht mehr so viel Zeit.“
Dann wendete er sich wieder zum Klavier, so als wäre dieses Thema somit vom Tisch und schlug erneut die Oktave an.
Ángels Puls raste. Das tat er jedes Mal, wenn er an seine Zeugnisse und somit auch an sein Zuhause, wo sie lagen, erinnert wurde. Krampfhaft versuchte er, die störenden Gedanken aus seinem Kopf zu verbannen.
Weitere Kostenlose Bücher