Engelsgesang
zeigte oder sagte, worum es eigentlich ging. Bis dahin würde er sich in zitternder, aber schweigsamer Geduld üben.
Martin wies Ángel einen Stuhl an der langen Tafel zu und setzte sich ihm gegenüber. „Hanna?“
Ángel zuckte zusammen, als Martin plötzlich seine Stimme erhob. Ein rundliches Frauengesicht um die Fünfzig sah durch eine Tür. „Hallo, Martin. Was kann ich für Sie tun?“
„Können Sie uns etwas zu Essen bringen, Hanna? Und vielleicht einen Wein?“
„Gern“, entgegnete Hanna. „Die gnädige Frau hat schon gegessen. Sie hat sich gewundert, wo Sie sind.“ Hannas Augen tasteten neugierig Ángel ab. Nachdem Martin jedoch nicht darauf einging, redete sie weiter: „Ich bringe Ihnen gleich eine Quiche a la Renate und einen passenden Weißwein. Obwohl Ihre Mutter ja meint …“
„Meine Mutter ist nicht da“, unterbrach sie Martin unwirsch, worauf Hanna sich eilig umdrehte und in der Küche verschwand.
„Ihr habt Hauspersonal?“
„Ja, meine Mutter besteht darauf“, war Martins trockene Antwort.
Während des gesamten Essens blieb Martin stumm. Immer wieder streifte er Ángel mit einem unsteten Blick. Ansonsten wirkte er kühl und arrogant, genau so, wie er am Anfang gewesen war. Eine düstere Aura schien sich um Martin gebildet zu haben, die nicht so leicht zu durchbrechen wäre … wenn man es versuchen würde. Doch Ángel hatte nicht vor, es zu versuchen. Ihm waren diese extremen Stimmungsschwankungen rätselhaft. Es kam ihm vor, als spiele Martin eine Rolle. Er konnte nur nicht sagen, welches die Rolle und welches die wahre Person war.
Als die Teller leer waren, wies Martin auf Ángels halbvolles Glas. „Nimm es mit. Ich möchte dir jetzt die Überraschung zeigen.“ Er nahm sein eigenes Glas in die eine, die Fasche Weißwein in die andere Hand und erhob sich.
Ángel staunte wieder über die Weitläufigkeit des Hauses. Sie gingen an der großen Empfangstreppe vorbei, einen langen Flur entlang, bis sie zum Fuß einer schmalen Treppe gelangten. Oben angekommen wies Martin auf eine von drei Türen: „Hier oben ist mein Reich. Meine Eltern lassen sich hier nie blicken. Das ist mein Zimmer und dort“, er ging auf eine weitere Tür zu, „ist mein Atelier.“
„Du hast ein eigenes Atelier?“
„Ja, meine Eltern mögen zwar nicht, dass ich eine künstlerische Laufbahn einschlage, trotzdem lassen sie sich nicht lumpen. Ich bekomme alles, was ich brauche. An Platz und Geld mangelt es ja nun wahrlich nicht.“
Martin stieß die Tür auf. Sie betraten einen großen hellen Dachraum mit schrägen Wänden, in die riesige Dachflächenfenster eingelassen waren, die nach Norden zeigten. Es standen mehrere Staffeleien sowie großformatige Bilder herum, die mit dem Gesicht zur Wand gedreht waren. Der helle Parkettboden war mit Farbe verschmiert. In der Luft lag der Geruch nach Ölfarben und Terpentin. Ángel wurde schwindelig, und er musste einen Moment seine Augen schließen, während er sich am Türrahmen fest hielt.
„Geht es dir nicht gut?“, fragte Martin.
„Doch, doch, das ist nur der Wein …“
Martin runzelte ungläubig die Stirn, entgegnete darauf aber nichts.
„Niemand darf sonst hier rein und ich halte mich hier nur auf, wenn ich arbeite.“ Martin sah sich um. Sein Gesicht war ausdruckslos, als er weiter sprach. „Es gab Zeiten, in denen meine Malerei eher ein Alibi fürs Faulenzen war, doch momentan … ich weiß auch nicht“, er fuhr sich mit einer Hand über die Augen, als fiele es ihm schwer weiterzureden. „Zurzeit arbeite ich viel, vor allem nachts. Man könnte wohl behaupten, die Muse hat mich geküsst und fordert jetzt ihren Tribut.“
Ángel sah sich um. Nirgends entdeckte er ein offenes Bild. Alle Gemälde waren entweder umgedreht oder zugehängt worden.
„Ich bin nervös …“ flüsterte Martin und lächelte unsicher. „Ich weiß nicht … was du dazu sagen wirst …“
„Das wirst du erst erfahren, wenn ich es sehen darf“, entgegnete Ángel und sah ihn an. Endlich wurde ihm bewusst, dass Martins Stimmung die gesamte Zeit über gar nicht kalt oder arrogant gewesen war. Nein, er hatte damit versucht, seine Unsicherheit und Furcht zu verstecken. Aber wieso?
„Wovor hast du Angst?“, fragte Ángel einer inneren Eingebung folgend.
„Dass meine Muse, die mich inspiriert hat, meine Werken nicht für gut befindet.“
Ángel sah ihn ratlos an. „Ich verstehe nicht. Wer ist denn deine Muse?“
Stumm ging Martin zu einem großen Bild, das zugedeckt
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